Der Durst der Toten
Hendriks ihm zeigen wollte, stieß Darren Secada schon ab, noch bevor er richtig hingesehen hatte.
Vielleicht, dachte Darren, sollte ich ein wenig an meiner Selbstbeherrschung arbeiten - oder zumindest meine Phantasie ein bißchen zügeln ...
... aber vielleicht ist Leichenbeschauer auch ganz einfach nur der falsche Job für mich!
Stufenlos verstellbare Metallspreizer machten aus dem Brustkorb der Toten eine riesige klaffende Wunde. Die Rippen ragten fast senkrecht auf und erinnerten Darren Secada an die Reißzähne eines urzeitlichen Raubtiers, das gerade etwas sehr Rohes und sehr Blutiges gefrühstückt hatte -
Aha, Innereien, dachte er, als er seinen Blick endlich in die geöffnete Brust der Leiche zwang. Eine kalte Faust wollte ihm das eigene Frühstück vom Magen zurück in die Kehle schieben.
Schwarzer Humor schied also aus in Sachen Ekelbekämpfung.
Darren hoffte, daß sein Seufzen nur in seinen eigenen Ohren wie ein würgendes Ächzen klang.
Zumindest diese Hoffnung erfüllte sich. Doc Hendriks, der im Dienst ergraute Polizei-Pathologe, hatte den verräterischen Laut entweder überhört, oder er ignorierte ihn kurzerhand. Jedenfalls war sein Mitteilungsbedürfnis ungebrochen. Er winkte seinen jungen Schüler näher heran, ohne selbst den Blick von dem Leichnam zu wenden.
»Kommen Sie schon und sehen Sie sich das an.« Wie die allermeisten seiner Sätze beendete er auch diesen mit einem vernehmlichen Schniefen. »Die Kälte hier drin«, hatte Hendriks gleich erklärt, als ihm Darren Secada, frisch von der Akademie gekommen, vorgestellt worden war, »Dauerschnupfen, Sie verstehen? Na ja, Sie werden es ja selbst erleben - wenn Sie es lange genug hier drin aushalten.«
Momentan zweifelte Darren daran.
Natürlich, auch während der Ausbildung hatten sie an echten Toten für die Praxis geübt. Aber das war anders gewesen - vergleichbar dem Unterschied zwischen Spiel und Ernst. Und außerdem: Ihre »Versuchskaninchen« auf der Akademie hatten niemals so ausgesehen!
Als Darren Secada endlich an den chromblitzenden Untersuchungstisch herantrat, fragte er sich, ob das Mädchen darauf schön gewesen war - - bevor ihr ein Eisenbahnzug buchstäblich über das Gesicht gefahren war!
Sie hatte schwarzes Haar; sehr viel mehr ließ sich nicht feststellen. Darren mochte Schwarzhaarige; aber er haßte sich fast dafür, daß ihm das gerade jetzt einfiel.
Nur eine Schutzmaßnahme deines Unterbewußtseins, versuchte er sich zu beruhigen. Es gelang mehr schlecht als recht.
Darren atmete flach durch den Mund. Obwohl man hier drinnen den Tod kaum roch. Der scharfe Geruch von Desinfektionsmitteln neutralisierte den Gestank aus Leibern weitgehend. Nur Erstbesucher glaubten, in pathologischen Einrichtungen alles Mögliche und -vor allem - alles Unmögliche riechen zu können.
Diese Reaktion des jungen Mannes entging dem alten Doc jedoch nicht. Er schielte grinsend zu ihm hin und tippte vielsagend gegen seine Nase, deren entzündete Rötung sein Gesicht noch fahler erscheinen ließ, als es ohnedies schon war. Beinahe mochte man meinen, sein Teint hätte sich aus Solidarität dem ungesunden seiner »Patienten« angeglichen.
»So eine verstopfte Nase bringt auch Vorteile«, schniefte er.
Darren erwiderte das Grinsen, eine Spur kläglicher allerdings.
»Was soll ich mir ansehen?« fragte er dann tapfer.
Hendriks beugte sich weiter über das tote Mädchen, zuckte aber noch einmal kurz zurück, als ein Ende seines wollenen Schals sich zwischen zwei der aufragenden Rippen verhedderte. Darren hatte plötzlich eine sehr konkrete Ahnung, woher die dunkle Färbung des Schals rührte .
Der Doc warf sich das herabhängende Ende in einer bizarr eleganten Geste über die Schulter, dann lehnte er sich wieder vor und deutete mit einem metallenen Spatel in die linke Brusthälfte der Toten.
»Hier«, sagte er. »Was sehen Sie da?«
Darren zuckte die Achseln. »Das Herz, würde ich sagen.«
»Sehr scharfsinnig«, bemerkte Hendriks verschnupft. »Würden Sie das nicht sehen, wären Sie hier am völlig falschen Platz.«
Einen Moment lang wünschte sich Darren, er hätte eine (noch) dümmere Antwort gegeben. Vielleicht hätte der Doc ihn dann gleich hochkant hinausgeworfen und ihm seine Entscheidung in Sachen Berufswahl abgenommen .
»Schauen Sie genauer hin, mein Junge«, verlangte Hendriks in beinahe väterlichem Ton.
Nein, der Alte würde ihn nicht hinauswerfen. Er schien schon einen regelrechten Narren an ihm gefressen zu
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