Der Durst der Toten
haben.
Darren seufzte und tat Hendriks den Gefallen. Seine Nasenspitze berührte dabei kurz das kalte Metallgestänge, das die Rippenbögen auseinanderdrückte; es sah aus wie ein monströse High-Tech-Spinne, die über der offenen Brust der Toten kauerte.
»Nun?« fragte Hendriks erwartungsvoll.
Darrens Auge zog eine gedachte Linie zwischen dem Ende des Spatels, den der Doc noch immer als Zeigestab mißbrauchte, und dem Herzen, das vor über 24 Stunden zum letzten Mal geschlagen hatte. Und dann sah er es; Hendriks hatte ihn sozusagen mit der Nase darauf gestoßen.
»Sieht aus wie ... ein Schnitt«, murmelte er, »Richtig!« Der Doc wirkte ehrlich erfreut. »Und was sagt uns das?«
Auf einmal empfand Darren Secada nichts mehr, das einem Ekelgefühl auch nur nahekam. Schlagartig war es aus ihm gewichen, wie fortgewischt, und etwas anderes war an seine Stelle getreten - Interesse, mehr noch: Neugierde, die in ihm kribbelte, als marschierten Ameisen über seine Nervenbahnen.
Wortlos nahm er Hendriks den Spatel aus der Hand und berührte damit den entdeckten Schnitt in der Herzwand, weitete ihn vorsichtig, um festzustellen, wie tief die Wunde war.
»Geht glatt durch«, sagte er halblaut. »Ist nicht sehr breit, kaum einen Zentimeter, schätze ich.«
Stumm reichte ihm Hendriks ein flexibles Maßband. Secada nahm es und setzte es an.
»Acht Millimeter«, nickte er dann.
»Gutes Augenmaß«, lobte der Pathologe.
»Danke.« Darren lächelte knapp.
»Und? Welche Schlußfolgerung ziehen Sie aus Ihrer Feststellung?«
»Ein Messerstich?« meinte Darren.
Hendriks wiegte den Kopf. »Dafür sind die Wundränder nicht glatt genug. Würde eher sagen, ein Brieföffner oder etwas in dieser Art. Was wiederum den Schluß nahelegt, daß es sich um eine Tötung im Affekt gehandelt hat. Wer einen Mord vorsätzlich plant, wird sich zur Ausführung kaum eines Brieföffners bedienen, nicht wahr?«
»Aber das würde ja heißen -«, setzte Darren an.
Hendriks wippte auf den Fußballen. »Genau das heißt es!«
Darren wies auf die Tote. »Sie war schon tot, bevor sie vom Zug überfahren wurde?«
Der Doc nickte. »Entweder das, oder der Täter hat es zumindest angenommen. In jedem Fall hat er sein Opfer auf die Schienen gelegt, um die Spuren seiner Tat zu verwischen.«
»Was er nicht gründlich genug geschafft hat«, sagte Darren. Der Triumph in seinem Ton ließ ihn lächeln im Angesicht des Todes, für eine Sekunde allerdings nur. Dann beugte er sich abermals über die Leiche.
»Aber warum ließ sich das nicht schon von außen feststellen? -Oh, deshalb also .«
Er hatte die Haut auf Herzhöhe der Toten näher in Augenschein genommen. Die Räder des Zuges hatten zwar Kopf und Beine des Mädchens abgetrennt, aber der Rest des Körpers war dennoch nicht unversehrt geblieben - Schotter und Schwellen hatten ihre Spuren überall hinterlassen. Die kleine Stichwunde fiel nur dann auf, wenn man wußte, wonach man zu suchen hatte.
Hendriks legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Sehen Sie, mein Junge, das ist es, was mir an diesem Beruf trotz allem gefällt - man kann kleine Wunder wirken.«
»Wunder?« echote Darren verwirrt.
Hendriks lächelte verschmitzt. »Natürlich. Oder wie würden Sie es nennen, wenn man die Toten zum Sprechen bringt?«
»Oh«, machte Darren, »ja, wenn man es so sieht .«
»So muß man es sehen«, behauptete Doc Hendriks ernsthaft, »sonst macht's keinen Spaß.«
»Und was passiert jetzt?« fragte Darren Secada.
Hendriks hob die Schultern. »Alles weitere ist Sache der Kollegen vom Morddezernat. - Auch eine Seite, die mir an meinem Job gefällt: Ich brauche die Arbeit nur anzufangen, zu Ende bringen müssen sie andere.«
Ein schrilles Läuten brach sich an den gekachelten Wänden. Darren zuckte erschrocken zusammen.
Hendriks verstärkte den Druck seiner Hand an der Schulter des jungen Mannes. »Scheußliches Geräusch, ich weiß. Hab' schon tausendmal darum gebeten, daß der Apparat anders eingestellt wird. Entschuldigen Sie mich kurz.«
Ohne sonderliche Eile ging er zum Telefon, das neben der Tür an der Wand befestigt war. Er meldete sich mit einem Niesen, dem er seinen Namen folgen ließ.
»Ja, der ist hier«, hörte Darren ihn sagen und wandte sich schon um. »Einen Augenblick, bitte.«
»Für Sie.« Hendriks hielt den Hörer in Darrens Richtung.
»Für mich?«
»Das Saint Gabriel's Hospital.«
»O Gott!« entfuhr es Darren. Eine fürchterliche Ahnung stieg in ihm auf und schnürte ihm die
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