Der Durst der Toten
ein Verbrecher?«
Seine Mutter lachte kurz auf. Ein Hustenanfall schüttelte sie.
»Nein, das war er nicht«, brachte sie angestrengt hervor. »Nur ein bißchen ... verrückt, vielleicht.« Ihre Finger krampften sich um Darrens Hand, mit soviel Kraft, wie er sie in ihrem ausgemergelten Körper nicht mehr vermutet hätte. Und es schien, als fließe alle Stärke, die noch darin war, in diesen Händedruck.
»Mom, nein, du darfst nicht -«, rief Darren erschrocken, als ihm die Bedeutung des Gedankens bewußt wurde.
»Dein Vater, Darren«, keuchte sie, »er lebt in Sydney.«
»Wo? Mom, bitte, du -«
Ihr Atem wurde langsamer, immer länger wurden die Pausen zwischen den einzelnen Zügen.
»Sechsunddreißig ...«, flüsterte sie kaum noch verständlich.
»Sechsunddreißig?« echote Darren verwirrt. »Was ist mit dieser Zahl?«
Wieder mußte er lange auf eine Antwort warten. Dann röchelte Bridget Secada: »Dein . Vater . Sechsunddreißig, Elm Street .«
»Ist das seine Adresse?« fragte Darren.
Seine Mutter antwortete nicht. Sie atmete nur noch, kurz und flach, schnappend wie ein Fisch auf dem Trocknen.
Einmal. Zweimal. Und nach einer Weile ein drittes Mal noch.
Dann - nie mehr.
*
Selbst der Himmel weinte nur eine Handvoll Tränen um Bridget Se-cada. Feiner Nieselregen stäubte vom grauen Himmel, während der Totengräber anfing, Erde in die Grube zu schaufeln.
Die kleine Trauergemeinde hatte den Friedhof bereits verlassen. Darren Secada war allein zurückgeblieben, nachdem er ein rundes Dutzend Hände gedrückt und gemurmelte Beileidsbekundungen gehört hatte. Die meisten derer, die sich am Grab seiner Mutter versammelt hatten, waren in den vergangenen Wochen nicht ein einziges Mal bei ihr in der Klinik gewesen. Darren nahm es keinem von ihnen wirklich übel. Mit schwerer Krankheit und nahem Tod umzugehen fiel niemandem leicht; man fürchtete, das Falsche zu sagen, und so halfen sich eben die meisten Leute damit, kurzerhand gar nichts zu sagen.
Als der Sargdeckel vollends unter feuchtem Erdreich verschwunden war, verließ schließlich auch Darren den kleinen Friedhof. Sein Mantel war feucht und schwer vom Nieselregen, aber Darren ging nicht deshalb leicht gebeugt wie unter einer schweren Last.
Etwas anderes bedrückte ihn - sein nächstes Ziel. Oder vielmehr: die Tatsache, daß er nicht wußte, was ihn dort erwartete. Was mochte sein Vater für ein Mann sein? Würde er ihn überhaupt antreffen unter der Adresse, die seine Mutter ihm auf dem Totenbett genannt hatte?
Darren hob die Schultern, als hätte ein anderer die Frage laut gestellt. Er hatte Zeit; es hatte so lange gebraucht, bis er seinen Vater kennenlernen durfte - was zählten da noch ein paar Stunden oder auch ein ganzer Tag? Es war ihm nicht einmal schwergefallen, die Beerdigung seiner Mutter abzuwarten, bevor er sich aufmachte, seinen Vater zu finden.
Zwei Straßen weiter stoppte Darren ein Taxi. Er nahm im Fond des Wagens Platz.
»Wohin soll's gehen?« fragte der Fahrer, ein jugendlich wirkender Bursche.
»Sechsunddreißig, Elm Street«, antwortete Darren.
Den seltsamen Blick des Fahrers fing er nicht auf. In Gedanken war er schon in der Elm Street und bei dem, den er dort zu treffen hoffte - oder fürchtete?
»Äh ... sind Sie sicher?« hakte der Mann nach.
»Natürlich bin ich sicher.«
Der Fahrer wiegte den Kopf und verdrehte, von seinem Passagier unbemerkt, die Augen. »Alles klar, Sir, es geht los.«
Die halbherzigen Konversationsversuche des Drivers ignorierte Darren meistenteils, und wenn er darauf reagierte, dann tat er es einsilbig und schroff, bis er es schließlich aufgab, ihn in ein Gespräch verwickeln zu wollen.
Darrens Gedanken beschäftigten sich in erster Linie mit dem Fremden, den er als seinen Vater würde ansehen müssen - und mit der Frage, weshalb seine Mutter ihm weisgemacht hatte, daß sein Vater sich von ihr getrennt habe und im Ausland umgekommen sei. Mehr Worte hatte sie nie über seinen Erzeuger verloren, und Darren hatte in all den Jahren nie gewagt, nach weiteren Einzelheiten zu fragen.
Weil er gespürt hatte, daß seiner Mutter das Thema unangenehm war, und das hatte er respektiert. Und wenn sie einen guten Grund gehabt hatte, ihm die Wahrheit über seinen Vater zu verschweigen, dann war es vielleicht besser gewesen, daß er ohne ihn aufgewachsen war - - WENN sie einen guten Grund hatte, dachte Darren. Nur - welcher Art konnte ein solcher Grund sein?
Darren kniff die Augen zu und massierte mit Daumen
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