Der Einbruch des Meeres
noch diese Nacht zu entführen. Das Vorhaben mußte bis zu einem gewissen Punkte erleichtert werden durch den Umstand, daß der bei den umfänglichen Arbeiten in seiner Nachbarschaft umgebaute Bordj jetzt ziemlich verlassen war.
In einer der Hütten von Coquinville erwarteten die Genossen Djemma und deren Sohn. Es galt aber die größte Vorsicht, daß diese sich nicht in der Nähe des Ortes oder Fleckens erblicken ließen.
Mit welch ängstlicher Unruhe richteten sie die suchenden Blicke hinaus nach dem Meere! Wie fürchteten sie die Ankunft des Kreuzers noch an diesem Abend, und daß der Gefangene dann auf diesen übergeführt werden könnte, ehe seine Flucht ins Werk gesetzt war. Voll Spannung schauten sie danach aus, ob ein weißes Licht auf dem Golf der Kleinen Syrte auftauchte, ob sie das Zischen von Dampf vernähmen oder die stöhnende Stimme der Sirenen, die die auf den Ankerplatz einlaufenden Schiffe ankündigen. Doch nein, auf dem tunesischen Gewässer schimmerten nur die Laternen der Fischerboote und kein scharfer Pfiff zerriß hier die Luft.
Es war noch nicht acht Uhr, als Djemma und ihr Sohn das Ufer des Oued erreichten; noch zehn Minuten, und sie mußten am Orte des Stelldicheins sein.
Eben als beide sich dem rechten Ufer näherten, trat ein Mann, der hinter den Kaktuspflanzen am Bachesrande verborgen gewesen war, geräuschlos halb hervor.
»Sohar?… flüsterte er mit tonloser Stimme.
– Bist du es, Ahmet?
– Ja… und deine Mutter?…
– Sie folgt mir.
– Und wir, wir folgen dir, sagte Djemma.
– Hast du neue Nachrichten? fragte Sohar.
– Nein… keine einzige, antwortete Ahmet.
– Unsere Genossen sind zur Stelle?
– Sie warten nur auf euch.
– Im Bordj hat noch niemand Verdacht geschöpft?
– Gewiß niemand.
– Und Hadjar ist bereit?
– Ja.
– Doch woher weißt du das?
– Ich hab’s von Harrig gehört, der heute Morgen freigelassen wurde und sich jetzt bei unsern Gefährten befindet.
– Dann also vorwärts,« sagte die alte Frau.
Alle drei folgten dein Ufer des Oued.
Infolge der Richtung, die sie einhielten, war die dunkle Masse des Bordj durch das dichte Laubgewölbe jetzt nicht zu sehen; ein wirklicher Palmenwald ist es ja, der die Oase Gabes bildet.
Ahmet wußte hier genau Bescheid und ging sichern Schrittes voraus. Zuerst führte der Weg durch das auf beiden Seiten des Oued liegende Djara. In diesem früher befestigten Flecken, der im Laufe der Jahrhunderte karthagisch, römisch, byzantinisch und arabisch gewesen war, wird der größte Markt von Gabes abgehalten. Augenblicklich waren die Leute von diesem voraussichtlich noch nicht heimgekehrt, und Djemma und ihr Sohn mußten einige Mühe haben, hier durchzuschleichen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Die Straßen der tunesischen Oase sind freilich noch nicht elektrisch, nicht einmal durch Gas beleuchtet, und außer in der Nähe einiger Kaffeehäuser lagen sie überall in tiefer Finsternis.
Der kluge und umsichtige Ahmet raunte Sohar trotzdem wiederholt zu, daß hier die größte Vorsicht zu beobachten sei. Es war ja nicht ausgeschlossen, daß so mancher in Gabes die Mutter des Gefangenen kannte, und ihre Anwesenheit hier genügte jedenfalls, die Wachsamkeit rund um das Fort zu verdoppeln. Obgleich von langer Hand vorbereitet, bot die Entführung schon allein genug Schwierigkeiten, und es war deshalb wichtig, daß die Aufmerksamkeit der Wachtposten nicht obendrein noch verschärft würde. Ahmet wählte deshalb auch nur die Wege, die nach der Umgebung des Bordj führten.
Übrigens war der mittlere Teil der Oase heute besonders belebt, da eben ein Sonntag zu Ende ging. Der letzte Tag der Woche wird allgemein in allen Städten gefeiert, die, in Afrika wie in Europa, Garnison und vor allem französische Garnison haben. Die ihren Urlaub genießenden Soldaten strömen dann gern in den Cafés zusammen und kehren erst spät nach den Kasernen zurück. Die Eingebornen mischen sich in den Trubel, vorzüglich in dem Viertel der Kleinkrämer, das Italiener und Juden bunt durcheinander beherbergt, und der fröhliche Lärm dauert hier bis zu später Nachtstunde an.
Wie schon erwähnt, konnte es recht gut der Fall sein, daß Djemma den Behörden in Gabes einigermaßen bekannt war. Seit der Verhaftung ihres Sohnes hatte sie sich mehrmals in die Nähe des Bordj gewagt, hatte sie ihre Freiheit, vielleicht gar ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Wir kennen schon den Einfluß, den sie auf Hadjar hatte, den bei dem Stamme der Tuaregs
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