Der Einzige und sein Eigentum (German Edition)
Menschliche!
Dieselben Leute, welche dem Christentum als der Grundlage des Staates, d. h. dem sogenannten christlichen Staate widerstreben, werden nicht müde zu wiederholen, daß die Sittlichkeit »der Grundpfeiler des gesellschaftlichen Lebens und des Staates« sei. Als ob nicht die Herrschaft der Sittlichkeit eine vollkommene Herrschaft des Heiligen, eine »Hierarchie« wäre.
So kann hier beiläufig der aufklärenden Richtung gedacht werden, die, nachdem die Theologen lange darauf bestanden hatten, nur der Glaube sei fähig, die Religionswahrheiten zu fassen, nur den Gläubigen offenbare sich Gott usw., also nur das Herz, Gefühl, die gläubige Phantasie sei religiös, mit der Behauptung hervorbrach, daß auch der »natürliche Verstand«, die menschliche Vernunft fähig sei, Gott zu erkennen. Was heißt das anders, als daß auch die Vernunft darauf Anspruch machte, dieselbe Phantastin zu sein wie die Phantasie. In diesem Sinne schrieb Reimarus seine »Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion«. Es mußte dahin kommen, daß der ganze Mensch mit allen seinen Fähigkeiten sich als religiös erwies; Herz und Gemüt, Verstand und Vernunft, Fühlen, Wissen und Wollen, kurz Alles am Menschen erschien religiös. Hegel hat gezeigt, daß selbst die Philosophie religiös sei. Und was wird heutigen Tages nicht Alles Religion genannt? Die »Religion der Liebe«, die »Religion der Freiheit«, die »politische Religion«, kurz jeder Enthusiasmus. So ist's auch in der Tat.
Noch heute brauchen Wir das welsche Wort »Religion«, welches den Begriff der Gebundenheit ausdrückt. Gebunden bleiben Wir allerdings, soweit die Religion unser Inneres einnimmt; aber ist auch der Geist gebunden? Im Gegenteil, der ist frei, ist alleiniger Herr, ist nicht Unser Geist, sondern absolut. Darum wäre die richtige affirmative Übersetzung des Wortes Religion die – » Geistesfreiheit «! Bei wem der Geist frei ist, der ist gerade in derselben Weise religiös, wie derjenige ein sinnlicher Mensch heißt, bei welchem die Sinne freien Lauf haben. Jenen bindet der Geist, diesen die Lüste. Gebundenheit oder religio ist also die Religion in Beziehung auf Mich: Ich bin gebunden; Freiheit in Beziehung auf den Geist: der Geist ist frei oder hat Geistesfreiheit. Wie übel es Uns bekommt, wenn frei und zügellos die Lüste mit Uns durchgehen, davon wird Mancher die Erfahrung gemacht haben; daß aber der freie Geist, die herrliche Geistigkeit, der Enthusiasmus für geistige Interessen, oder wie immer in den verschiedensten Wendungen dies Juwel benannt werden mag, Uns noch ärger in die Klemme bringt, als selbst die wildeste Ungezogenheit, das will man nicht merken, und kann es auch nicht merken, ohne bewußterweise ein Egoist zu sein.
Reimarus und Alle, welche gezeigt haben, daß auch Unsere Vernunft, Unser Herz usw. auf Gott führe, haben damit eben gezeigt, daß Wir durch und durch besessen sind. Freilich ärgerten sie die Theologen, denen sie das Privilegium der religiösen Erhebung nahmen, aber der Religion, der Geistesfreiheit eroberten sie dadurch nur noch mehr Terrain. Denn wenn der Geist nicht länger auf das Gefühl oder den Glauben beschränkt ist, sondern auch als Verstand, Vernunft und Denken überhaupt sich, dem Geiste, angehört, also auch in der Form des Verstandes usw., an den geistigen und himmlischen Wahrheiten teilnehmen darf, dann ist der ganze Geist nur mit Geistigem, d. h. mit sich beschäftigt, also frei. Jetzt sind Wir so durch und durch religiös, daß »Geschworne« Uns zum Tode verdammen, und jeder Polizeidiener als guter Christ durch »Amtseid« Uns ins Loch bringt.
Die Sittlichkeit konnte erst von da ab gegen die Frömmigkeit in einen Gegensatz treten, wo überhaupt der brausende Haß wider alles, was einem »Befehle« (Ordonnanz, Gebote usw.) ähnlich sah, sich revoltierend Luft machte, und der persönliche »absolute Herr« verhöhnt und verfolgt wurde: sie konnte folglich zur Selbständigkeit erst durch den Liberalismus kommen, dessen erste Form als »Bürgertum« sich weltgeschichtliche Bedeutung verschaffte, und die eigentlich religiösen Gewalten schwächte (siehe unten »Liberalismus«). Denn das Prinzip der neben der Frömmigkeit nicht bloß beihergehenden, sondern auf eigenen Füßen stehenden Sittlichkeit liegt nicht mehr in den göttlichen Geboten, sondern im Vernunftgesetze, von welchem jene, soweit sie noch gültig bleiben sollen, zu ihrer Gültigkeit erst die Berechtigung erwarten müssen. Im
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