Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
war unschlüssig, was ich machen sollte. Es kam mir vor, als wäre ich im Schlaf unendlich gealtert.
    Ich stand wieder auf und blickte zum Haus hinüber. Aber auch dort war keine Menschenseele zu sehen. Nur das Erkerfenster funkelte hell in der Westsonne. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Rasen zu überqueren, in das Gässchen zu treten und nach Hause zurückzukehren. Ich hatte die Katze zwar nicht gefunden, aber zumindest hatte ich getan, was ich konnte.
    Zu Hause brachte ich die trockene Wäsche rein und bereitete ein einfaches Abendessen vor. Dann setzte ich mich auf den Boden im Wohnzimmer und las, an die Wand gelehnt, die Abendausgabe der Zeitung. Um halb sechs klingelte das Telefon zwölfmal, aber ich nahm nicht ab. Auch nachdem es aufgehört hatte, hing der Nachhall noch wie Staub im fahlen Abendlicht des Zimmers. Die Uhr auf dem Fernseher schlug mit ihren harten Krallenspitzen auf ein unsichtbares Brett im Raum. Eine mechanische Welt, dachte ich. Einmal am Tag kommt der Aufziehvogel und zieht die Federn der Welt auf. Und ich allein werde immer älter in dieser Welt, den anschwellenden Tod in mir, wie einen weißen Softball. Auch während ich irgendwo zwischen Saturn und Uranus fest schlafe, gehen die Aufziehvögel sorgsam ihrer Arbeit nach.
    Wie wär’s, wenn ich ein Gedicht über die Aufziehvögel schreibe, dachte ich. Aber sosehr ich auch überlegte, mir fiel kein Anfang ein. Vor allem aber glaubte ich nicht, dass sich Oberschülerinnen für ein Gedicht über Aufziehvögel begeistern würden. Sie wussten ja noch nicht einmal etwas von der Existenz des Aufziehvogels.
    Um halb acht kam meine Frau nach Hause.
    »Entschuldigung, ich musste länger arbeiten«, sagte sie. »Ich habe einfach die Unterlagen für die Studiengebühren einer Studentin nicht gefunden. Das Mädchen, das bei uns aushilft, ist so unzuverlässig, aber sie arbeitet nun mal für mich.«
    »Kein Problem«, sagte ich. Ich ging in die Küche, briet den Fisch in etwas Butter, machte den Salat und kochte Miso-Suppe. In der Zwischenzeit las meine Frau am Küchentisch die Abendzeitung.
    »Übrigens, wo warst du denn um halb sechs?«, fragte sie. »Ich habe angerufen, um dir zu sagen, dass es etwas später wird.«
    »Es war keine Butter mehr da, ich bin welche einkaufen gegangen«, log ich.
    »Bist du zur Bank gegangen?«
    »Natürlich«, antwortete ich.
    »Und die Katze?«
    »Habe ich nicht gefunden.«
    »Hm«, sagte meine Frau.
    Nach dem Essen nahm ich ein Bad, und als ich herauskam, saß meine Frau allein im Wohnzimmer, ohne Licht. Wie sie da in ihrem grauen Hemd mitten im Dunkeln hockte, wirkte sie wie ein liegen gebliebenes Paket. Sie tat mir furchtbar leid. Man hatte sie am falschen Platz abgestellt. Hätte man sie woanders hingebracht, wäre sie vielleicht glücklicher.
    Ich trocknete mir mit dem Handtuch die Haare und setzte mich ihr gegenüber aufs Sofa.
    »Was ist los?«, fragte ich.
    »Die Katze ist bestimmt tot«, sagte meine Frau.
    »Bestimmt nicht«, sagte ich. »Sie treibt sich nur irgendwo rum. Sie kriegt sicher bald Hunger und dann kommt sie zurück. Das war doch schon mal so. Als wir noch in Kōenji wohnten, ist sie …«
    »Dieses Mal ist es anders. Ich spüre es. Die Katze ist tot und verwest jetzt irgendwo im Gebüsch. Hast du in den Büschen im Garten des leerstehenden Hauses gesucht?«
    »Hör mal. Auch wenn das Haus leersteht, gehört es immerhin noch jemandem. Ich kann doch nicht einfach mir nichts dir nichts da reingehen.«
    »Du hast sie umgebracht«, sagte meine Frau.
    Ich stieß einen Seufzer aus und rubbelte mir noch einmal mit dem Handtuch den Kopf.
    »Du hast sie im Stich gelassen«, wiederholte sie im Dunkeln.
    »Das verstehe ich nicht ganz«, sagte ich. »Die Katze ist ganz alleine abgehauen. Es ist nicht meine Schuld. Das muss dir doch auch klar sein.«
    »Du hast die Katze sowieso nie richtig gemocht, oder?«
    »Das mag vielleicht sein«, gab ich zu. »Zumindest habe ich sie nicht so geliebt wie du . Aber ich habe sie nicht schlecht behandelt und habe ihr jeden Tag ordentlich zu fressen gegeben. Ich habe sie gefüttert, oder? Nur weil ich sie nicht liebe, habe ich sie noch lange nicht umgebracht. Wenn das so wäre, hätte ich den Großteil der Menschheit auf dem Gewissen.«
    »So jemand bist du, genau so«, sagte meine Frau. »Immer bist du so. Immer. Ohne eine Hand zu rühren, tötest du alles um dich herum.«
    Ich wollte etwas antworten, aber als ich merkte, dass sie weinte, ließ ich es. Ich ging ins

Weitere Kostenlose Bücher