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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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zweite Bäckereiüberfall
    Ob die Entscheidung, meiner Frau von dem Überfall auf die Bäckerei zu erzählen, richtig war oder nicht, weiß ich immer noch nicht genau.
    Vermutlich ist das eine Frage, die sich nicht einfach als richtig oder falsch beantworten lässt. Schließlich gibt es in der Welt falsche Entscheidungen, die richtige Ergebnisse, und auch richtige Entscheidungen, die falsche Ergebnisse zur Folge haben. Um solcher, nennen wir es ruhig: Absurdität zu entgehen, muss man sich auf den Standpunkt stellen, dass man in Wahrheit nichts, aber auch nichts entscheidet , und im Großen und Ganzen denke und lebe ich danach. Was geschieht, das geschieht, und was nicht, eben nicht.
    Von solcher Warte aus gesehen ist zu sagen, dass ich meiner Frau auf jeden Fall und wie auch immer von dem Überfall erzählte. Erzählt ist erzählt, und der Zwischenfall, der sich daraus ergab, hat sich bereits ergeben. Wenn er manch einem seltsam erscheinen mag, so ist der Grund dafür meines Erachtens in der ihn einschließenden Gesamtsituation zu suchen.
    Aber wie auch immer, das sind nichts als Gedanken. Dadurch ändert sich nichts.
    Es war ein nichtiger Anlass, der mich den Überfall auf die Bäckerei meiner Frau gegenüber zur Sprache bringen ließ. Ich hatte weder den festen Vorsatz gehabt, davon zu sprechen, noch erinnerte ich mich plötzlich daran und begann mit »ach, übrigens« zu erzählen. Ich hatte, bis ich das Wort »Bäckereiüberfall« in den Mund nahm, selbst völlig vergessen, dass ich früher einmal eine Bäckerei überfallen habe.
    Was mir den Überfall in Erinnerung rief, war ein kaum auszuhaltender Hunger. Es war kurz vor zwei Uhr nachts. Meine Frau und ich hatten um sechs Uhr ein leichtes Abendessen eingenommen, waren um halb zehn ins Bett gegangen und hatten die Augen zugemacht, waren aber zu der genannten Zeit seltsamerweise gleichzeitig wieder aufgewacht. Mit der Macht des Wirbelwindes, der im »Zauberer von Oz« vorkommt, überfiel uns kurz darauf der Hunger. Ein gewaltiger, geradezu unfair zu nennender Hunger.
    Unser Kühlschrank enthielt allerdings nichts, was den Namen »Lebensmittel« verdient hätte. Was wir fanden, waren French Dressing, sechs Dosen Bier, zwei schrumplige Zwiebeln, Butter und einen Beutel Geruchsfrei. Wir waren erst zwei Wochen verheiratet und hatten noch keine gemeinschaftliche Vorstellung davon entwickelt, was Essen sei. Damals gab es noch einen Haufen anderer Dinge, die wir entwickeln mussten.
    Ich arbeitete zu der Zeit bei einem Rechtsanwalt, meine Frau im Büro einer Designschule. Ich war acht- oder neunundzwanzig (irgendwie kann ich mich einfach nicht an mein Hochzeitsjahr erinnern), sie war zwei Jahre und acht Monate jünger als ich. Unser Leben war wahnsinnig hektisch und durcheinander wie ein dreidimensionales Labyrinth, an Lebensmittelvorräte zu denken fehlte uns völlig die Muße.
    Wir stiegen aus dem Bett, zogen in die Küche und setzten uns einander gegenüber an den Tisch. Wir hatten beide zu viel Hunger, um uns noch einmal schlafen zu legen – das Hinlegen allein bereitete Schmerzen –, und um aufzustehen und irgendetwas zu tun hatten wir selbstredend auch zu viel Hunger. Woher dieser gewaltige Hunger kam, war uns ein Rätsel.
    Ein paar Mal machten wir mit einem kleinen Hoffnungsschimmer den Kühlschrank auf, aber der Inhalt blieb, sooft wir auch nachsahen, stets derselbe. Bier, Zwiebeln, Butter, Dressing und Geruchsfrei. Wir hätten die Zwiebeln in Butter dünsten können, aber es war nicht anzunehmen, dass zwei schrumplige Zwiebeln unsere leeren Mägen wirkungsvoll würden füllen können. Zwiebeln sind mit irgendetwas anderem einzunehmen, sie gehören nicht zu den Lebensmitteln, mit denen man Hunger stillen kann.
    »Und Geruchsfrei mit French Dressing?«, schlug ich spaßeshalber vor, wurde aber wie erwartet ignoriert.
    »Lass uns ins Auto steigen und ein 24-Stunden-Restaurant suchen«, sagte ich. »An den Durchgangsstraßen gibt’s bestimmt welche.«
    Aber meine Frau lehnte den Vorschlag ab. Sie hätte keine Lust, auswärts zu essen.
    »Nach Mitternacht Essen zu gehen ist irgendwie nicht richtig«, sagte sie.
    Sie ist in dieser Hinsicht furchtbar altmodisch.
    »Na ja, das stimmt«, sagte ich zögernd.
    In meinen Ohren klang die Meinung (beziehungsweise These) meiner Frau – bei Neuverheirateten mag so etwas häufig auftreten – wie eine Offenbarung. Ihre Worte erweckten in mir das Gefühl, dass der Hunger, den ich gerade verspürte, ein besonderer Hunger

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