Der Elefanten-Tempel
verändert hatte. Seine Augen hatten jetzt einen gelassenen Blick, seine Haltung war eher würdig als aggressiv und seine Bewegungen waren nicht mehr so abrupt, sondern weicher, harmonischer. Die dunklen Spuren an seinen Schläfen waren eingetrocknet und er strömte auch nicht mehr einen so scharfen Geruch aus.
Sie lief zum Haupthaus, um eine Banane für ihn zu holen. Als kleines Versöhnungsgeschenk. Um zu zeigen, dass sie ihm nichts nachtrug.
»He, du brauchst doch nicht wegzurennen!«, rief Sofia ihr hinterher, doch Ricarda winkte nur kurz – sie wollte jetzt nicht lange erklären – und begann die Treppe hochzuklettern. Doch dann hielt sie inne. Im Schatten des Haupthauses hockte Nuan, die Arme um die Knie geschlungen. Ohne jede Bewegung saß er da und beobachtete, wie Kaeo den Bullen dazu brachte, den Rüssel zu einem Gruß hochzuwölben.
Er wirkte so teilnahmslos, dass es Ricarda Angst machte. Sie kletterte wieder herunter und nähertesich ihm vorsichtig, setzte sich neben ihn. Der Boden war noch morgenkühl und feucht vom Tau.
»Ich muss gehen – heute noch«, sagte Nuan, ohne sie anzublicken.
Eine Lanze aus Eis fuhr in Ricardas Herz. »Warum? Hat Ruang das gesagt?«
»Nein. Aber es ist so.«
Ricarda folgte seinem Blick, der noch immer auf Khanom und Kaeo ruhte, und verstand. Es war schlimm genug, um Devi trauern zu müssen. Aber jeden Tag daran erinnert zu werden, dass er ohne eigenen Elefanten eigentlich kein Mahout mehr war – das noch länger zu ertragen schaffte er nicht. Nicht einmal um ihretwillen. Plötzlich bekam Ricarda Angst um ihn. Was war, wenn er sich aufgab? Was würde dann aus ihm werden? Sie stellte sich vor, wie er von einem Gelegenheitsjob zum nächsten driftete, und wusste, dass ihn das umbringen würde. So sicher wie ein Gift, nur langsamer.
Jetzt sah Nuan sie doch noch an. »Wann geht dein Flug?«
»Am Sonntag. Übermorgen.« Ricarda holte tief Luft. »Komm, wir besuchen Laona«, schlug sie vor, und schließlich nickte Nuan und richtete sich auf. Ricarda war erleichtert. Denn auch sie wusste etwas – nämlich dass sie bis zu ihrer Abreise jeden einzelnen Moment mit ihm verbringen wollte. Sein Abschiedgeschenk hatte sie schon fast fertig: eine englische Übersetzung ihrer Legende, noch einmal schön abgeschrieben auf Pergament.
Laona ging es deutlich besser als Nuan. Ihr Gehege war leer; sie fanden die Elefantin schließlich bei Noi und deren Mutter, der halb blinden Mae Lom, im Schatten von Bäumen. Zufrieden fächelten sie mit den Ohren und naschten ein paar Stücke Baumrinde von einem Stamm, der bei einem der letzten Gewitter vom Blitz getroffen worden war. Laona liebkoste die kleine Noi mit dem Rüssel und steckte ihr einen mit zarten jungen Blättern besetzten Zweig ins Maul. Noi fraß ein paar Blättchen ab und verarbeitete den Zweig dann übermütig zu Kleinholz.
»Ich glaube, Laona hat ihren Frieden gefunden«, meinte Ricarda. »Schau mal, ihre Wunden sind auch verheilt. Am Anfang hatte sie eine Entzündung am Bein.«
Nuan nickte. Lange beobachteten sie die Elefantin, die so nervös und verängstigt im Refuge angekommen war. Ricarda musste wieder an die wilde nächtliche Flucht denken, an Devis Tod, und sie ahnte, dass es Nuan genauso ging. Trug er es Laona nach, warf er ihr vor, dass Devi ihretwegen gestorben war?
Sie wusste es nicht. Nuan wirkte noch verschlossener als ganz zu Anfang seiner Zeit im Refuge. Selbst sie hatte heute nicht das Gefühl, an ihn heranzukommen.
Eine hübsche junge Frau im weißen Minirock, mit lässig hochgeschobener Sonnenbrille und hochhackigen Sandalen erschien aus der Richtung des Eingangs und stelzte quer über den Übungsplatz. Ein kleiner beigefarbener Hund trippelte an der Leine hinter ihrher. »Kaeo!«, flötete die Besucherin. So, so, das war bestimmt eine von Kaeos Freundinnen!
»He, wir haben einen Gast«, murmelte Ricarda und beobachtete die Szene aus den Augenwinkeln. Die Frau hatte Glück, dass Noi mit ihrer Mutter gerade irgendwo im Wald war, sonst wäre ihrer Handtasche eine strenge Durchsuchung nach Süßigkeiten sicher gewesen.
Khanom schlenderte zwischen den Bäumen hervor. Von seiner hohen Warte aus winkte Kaeo der jungen Frau verlegen zu und stieg ab. Neugierig beobachtete Ricarda die beiden. Nein, sie berührten sich nicht, von einem Kuss ganz zu schweigen. Dazu war sowieso keine Zeit, denn Khanom – der Hunde nicht ausstehen konnte – schlug mit dem Rüssel nach dem Fellbündel. Jaulend flüchtete es und
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