Der Elefanten-Tempel
bedrückt, niemand sagte etwas. Bis Ricarda auf halbem Weg zum Refuge schließlich wagte, das Schweigen zu brechen. »Wie geht es Laona?«
»Erstaunlich gut«, sagte Ruang. »Sie hat sich beruhigt und frisst schon wieder. Seltsam, dass sie nachts aus dem Refuge entkommen konnte.«
»Äh, kann es sein, dass sie den Elektrozaun kurzgeschlossen hat?« Ricarda kam sich ungeheuer scheinheilig vor.
»Ja, kann sein.« Ruang nickte und seufzte. »Elefanten sind unglaublich schlau.«
»Wir haben ihnen mal Holzglocken gebunden um den Hals, damit wir sie im Wald leichter finden«, erzählte Kaeo. »Aber dann haben wir gemerkt, dass sie Matsch in die Glocken reingestopft haben, wenn sie nachts heimlich auf Nachbarsfelder gegangen sind zum Vollfressen. Damals unsere Zäune waren noch nicht gut.«
Kurzes Staunen, dann noch mehr Scheinheiligkeit. »Nuan glaubt, dass Laona deshalb zum Tempel gegangen ist, weil dort einmal ein Verwandter von ihr gestorben ist …«
»Hm, das kann sein. Ich werde versuchen es herauszufinden.«
Das war genau, worauf Ricarda hinausgewollt hatte. Obwohl sie keine Ahnung hatte, ob es Nuan überhaupt noch interessierte. Schließlich war die ganze Sache mit Laona und dem Tempel schuld an Devis Tod.
Es kam Ricarda seltsam vor, dass das Leben im Refuge weiterging wie bisher. Doch das musste es natürlich, um der Elefanten willen. Gemeinsam mit den anderen ritt Ricarda zum Baden. Daeng war übermütig und hatte es eilig, zum Fluss zu kommen – auf den ebenen Abschnitten des Pfades begann sie immer wieder zu rennen. Alarmiert klammerte sich Ricarda mit den Beinen fest, um nicht abgeworfen zu werden, und beruhigte Daeng mit » Goy! Langsam!«-Rufen, bis sie wieder in einen gemächlichen Schritt fiel.
Pflichtbewusst schrubbte Ricarda ihrem Elefanten die rosagefleckten Ohren und sah zu, wie Sofia von Kopf bis Fuß nass wurde, als sich Mae Jai Di entschloss auf Tauchstation gehen. Lachen konnte sie noch nicht darüber, es war zu früh; immer wieder schob sich das Bild der toten Devi vor ihr inneres Auge.
In der Mittagspause musste Ricarda Sofia dann ausführlich erzählen, was passiert war. Wie erwartet war Sofia entsetzt. Zum Glück hatte sie wenigstens keineSprüche à la Hättest du doch auf mich gehört auf Lager, was die Legende und ihren traurigen Schluss anging. Das hätte Ricarda nicht ertragen.
Immer wieder hielt sie an diesem Tag Ausschau. Nach Nuan. Er war nirgends in Sicht. Was tat er? Hatte er sich in den Wald zurückgezogen, um in Ruhe zu trauern? Als der übliche Wolkenbruch über den Bergen Chiang Mais niederging und sich sogar die Luft schwer und nass anfühlte, hoffte sie, dass er einen trockenen Platz gefunden hatte, um das Ende des Gewitters abzuwarten.
Ricarda war erleichtert, als Nuan beim Abendessen im Haupthaus wieder dabei war. Und ihr stockte der Atem, als er sich wortlos, kommentarlos neben sie setzte statt wie sonst ein ganzes Stück entfernt zu Kaeo. Sie ahnte, dass das eine Art öffentliche Liebeserklärung war. Diese Nacht bei Devi hatte etwas zwischen ihnen verändert. Ob dieses Gefühl, sich sehr nahe zu sein, bleiben würde?
Sofia lächelte Ricarda verschwörerisch zu und setzte sich auf ihre andere Seite. »Na, glücklich?«, flüsterte sie.
»Ich glaube schon«, erwiderte Ricarda und strich sich nachdenklich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Konnte man glücklich sein, wenn etwas so Schreckliches geschehen war? Wenn der Mensch, den man liebte, gerade alles verloren hatte?
Ja, vielleicht. Wenn man ihm etwas Neues schenkte, ein Stück von sich. Nuan hatte ihr schon so vielesanvertraut. Jetzt war sie dran. Und instinktiv wusste sie, was sie ihm geben würde. Ihr letztes, ihr schlimmstes Geheimnis. Ob er sie danach immer noch mögen würde? Sie musste es einfach hoffen.
Den anderen gegenüber ließ sich Nuan seine Gefühle nicht mehr anmerken. Höflich, aber verschlossen überstand er das Abendessen und niemand sprach ihn auf Devi an. Doch dann fragte Ruang, was er jetzt vorhabe. Ricarda spitzte die Ohren.
»Ich werde nach Surin zurückkehren, in das Dorf meiner Familie«, sagte Nuan kurz.
Aus dem Klang seiner Stimme las Ricarda keine Freude über die Heimkehr, keine Erleichterung, dass die lange Flucht nun vorbei war. Viel hielt seine Zukunft ja auch nicht bereit: Es würde eine bittere Rückkehr werden, eine Rückkehr zu Vorwürfen und Schande. Unwahrscheinlich, dass er in seinem Dorf nach dem Diebstahl eines Elefanten als verlorener Sohn empfangen werden
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