Der Elefanten-Tempel
Fachwerkhauses. Er war gerade von der Bundeswehr zurückgekommen und zog immer noch gerne seine Tarnklamotten an. Manchmal spielte er Luftgitarre, das sah witzig aus. Ständig hingen seine Freunde bei ihm herum und tranken sein Bier.«
Ricarda wusste selbst, dass Nuan all das wahrscheinlich nicht sehr interessierte. Doch das ließ er sich nicht anmerken, geduldig wartete er darauf, was sie noch erzählen würde. »Einmal dachte ich, dass diealte Frau aus dem Haus gegenüber Verdacht geschöpft hat. Sie schaute mich immer so streng an, wenn wir uns auf der Straße über den Weg liefen. Vielleicht hat sie das Aufblitzen der Linsen hinter meinem Fenster bemerkt. Immerhin, meine Eltern und mein Bruder haben mich nie ertappt.«
Sie schluckte und sammelte ihren ganzen Mut, um zu erzählen, wie das alles geendet hatte. »Dann kam dieser Abend. Ich habe beobachtet, wie der Typ mit der Halbglatze aus dem Haus gegenüber heimgekommen ist. Er war mal wieder völlig betrunken, er hatte immer einen Kasten Bier daheim und noch jede Menge Schnaps. Gespritzt hat er sich auch irgendwas. Eklig fand ich das alles, der Mann hat mich abgestoßen. Kein Wunder, dass er allein lebt, dachte ich. Diesmal wirkte er besonders angeschlagen und nach einer Minute ist er plötzlich aus meinem Blickfeld verschwunden. Umgekippt.«
Nuan nickte, ohne etwas zu sagen.
»Ich wusste nicht, ob ich irgendjemandem Bescheid sagen soll. Ob ich die Polizei rufen soll. Aber dann dachte ich, er ist eben umgefallen, weil er so betrunken war, und jetzt schläft er auf dem Boden seinen Rausch aus. Das ist ja kein Verbrechen. Eigentlich wollte ich gar nicht über die ganze Sache nachdenken, es war mir lästig, weil an dem Abend ›Fluch der Karibik‹ im Fernsehen kam und ich das nicht verpassen wollte.«
Ricarda fühlte, wie ihre Augen zu brennenanfingen. Hörte, wie ihre Stimme brüchig wurde. Aber jetzt ging es nicht mehr anders, sie musste weitererzählen. »Ein paar Tage später hörte ich in der Bäckerei, dass der Mann gestorben war. Er war Diabetiker und musste sich Insulin spritzen. An diesem Abend hatte er wohl zu wenig gegessen, er war unterzuckert und ist deswegen bewusstlos geworden. Eine Stunde oder so hat er wohl noch gelebt. Wenn ich den Notarzt gerufen hätte, dann hätte der ihn retten können. Aber ich habe es nicht getan, ich habe es nicht getan , nur weil ich diesen verdammten Film sehen wollte, irgendeinen blöden Hollywood-Schinken, der sowieso jedes Jahr im Fernsehen wiederholt wird, verstehst du? Ich habe Johnny Depp zugeschaut und gelacht und währenddessen ist dieser Mann langsam gestorben, weil ich ihm nicht geholfen habe.«
Jetzt war es raus. Ricarda blickte über den Fluss hinaus. Sie wartete darauf, dass Nuan etwas sagte.
Sie verdammte.
Sie einfach hier am Ufer sitzen ließ und ging.
Sie in den Arm nahm.
Nuan schwieg lange. Schließlich sagte er: »Eine schlimme Sache, ja. Dieses Mädchen damals war gedankenlos und auch ein bisschen feige. Es hat falsch gehandelt.«
»Ja«, sagte Ricarda und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Gedankenlos. Feige. Falsch. Es war unendlich schwer, diese Worte zu ertragen. Aber Nuan sprach die Wahrheit, und diese Wahrheit aus seinemMund zu hören war vielleicht die einzige Buße, die wirklich zählte.
»Aber dieses Mädchen kenne ich nicht«, fuhr Nuan fort. »Ich kenne ein Mädchen, das für mich gesprochen hat, als alle anderen geschwiegen haben. Das keinen Wimpernschlag lang gezögert hat, als ich Hilfe brauchte. Das einem Elefanten gefolgt ist in der Nacht, um darauf zu achten, dass er sicher nach Hause kommt.«
Seine Worte hallten durch Ricarda hindurch, kamen an einem verborgenen Ort tief in ihrem Herzen an und nahmen eine Last von ihr, die sie schon so lange trug. Und sie konnte Nuan noch immer nicht ansehen, weil er sonst gemerkt hätte, dass ihre Augen mal wieder feucht waren.
»Ich nehme dein Geschenk an.« Nuans Stimme war tief und klar. »Danke. Für deine Geschichte und für das Fernglas.«
»Wozu wirst du es benutzen? Um Elefanten zu beobachten?«
»Na klar.« Als Ricarda den Kopf hob, blickte sie direkt in Nuans Augen, und diesmal sah sie es genau, ein verschmitzter Funke tanzte darin. »Man kann sie bestimmt wunderbar ausspionieren. Dabei, wie sie miteinander flirten, Bauern heimlich die Felder leer fressen und in den Fluss pinkeln, aus dem andere noch trinken wollen.«
Das hätte so genauso gut von Sofia kommen können. Ricarda musste lachen, und das verscheuchte ihre
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