Der Engelmacher
wurde und sich in den nächsten Tagen nicht mehr auf dem Dorfplatz blicken ließ.
2
Das Unheil, das man vorhergesagt hatte, traf Wolfheim nicht. Todes- und Unglücksfälle, Nachbarschaftsstreitigkeiten, Diebstähle und andere Unannehmlichkeiten blieben den Dorfbewohnern in den auf die Ankunft Doktor Hoppes folgenden Monaten erspart. Zum ersten Mal seit Jahren wurde es sogar ein milder Winter, und auch der Frühling war wärmer als sonst, wodurch der Flieder bei der Marienkapelle schon in der letzten Aprilwoche in voller Blüte stand. Viele Einwohner fassten das als Zeichen der Hoffnung auf.
Die ganze Zeit über war Doktor Hoppe seiner Gewohnheit treu geblieben und hatte drei Mal in der Woche seine Runde gedreht. Seine Kinder nahm er dabei nie mit. Bislang hatte sie überhaupt noch niemand zu Gesicht bekommen, weder im Haus, wenn man aus einigem Abstand in die Fenster gespäht hatte, noch im Garten, obwohl verschiedene Dorfbewohner regelmäßig zwischen den Zweigen der Weißdornhecke hindurch gelugt hatten. Allmählich fing man auch an, sich zu fragen, ob der lange Meekers sich nicht vielleicht nur etwas zusammengesponnen hatte, und vorsichtige Stimmen äußerten die Meinung, man müsse dem Doktor vielleicht doch eine Chance geben. Aber niemand wagte die Initiative zu ergreifen, und so geschah es erst an einem Sonntag im Mai 1985, sieben Monate nach der Rückkehr des Doktors, dass zum ersten Mal ein Einwohner Wolfheims dessen Hilfe in Anspruch nahm, wenn auch nicht ganz freiwillig.
An jenem Sonntagmittag holte in der Galmeistraße 16 der unter Asthma leidende kleine Georg Bayer eine Murmel mit orangen Streifen aus der Hosentasche, die er ein paar Tage zuvor auf dem Spielplatz gefunden hatte. Das Kind leckte zuerst daran und steckte sie dann ganz in den Mund, während sein Vater auf der Bank gerade eine Seite des Sonntagsblatts umschlug und seine Mutter in der Küche die Kartoffeln auf den Herd stellte. Als wäre es ein süßes, buntes Bonbon, ließ Georg die Murmel über die Zunge rollen, von links nach rechts und von vorn nach … Die Murmel rollte ganz von selbst in die Kehle, wo sie in der Luftröhre stecken blieb, und so sehr der kleine Georg sich auch anstrengte, er bekam das Ding nicht herausgehustet. Auch sein Vater unternahm noch einige vergebliche Versuche, die Murmel zu entfernen – er klopfte dem Kind erst ein paar Mal auf den Rücken und probierte, das bunte Etwas mit den Fingern aus der Kehle herauszufischen –, beschloss dann aber aus einem Impuls heraus, Doktor Hoppe einzuschalten, und wenn er ihm dafür die eigene Seele verkaufen müsste.
Keine zwei Minuten später hielt der Wagen von Werner und Rosette Bayer vor dem Doktorhaus. Werner nahm seiner Frau das Kind ab und stürzte laut rufend auf Doktor Hoppes Zauntor zu: »Herr Doktor! Hilfe! Herr Doktor! Bitte! Hilfe! Hilfe!«
In den umliegenden Häusern wurden prompt die Gardinen zur Seite geschoben, die ersten Türen gingen auf, und die Bewohner des Viertels kamen schnell herbeigelaufen. Nur im Haus von Doktor Hoppe regte sich zunächst nichts, sodass Werner noch lauter zu rufen anfing und den halb erschlafften Körper seines Sohnes in die graue Luft emporhievte, als wollte er ein Opfer darbieten. Im selben Augenblick erschien endlich Doktor Hoppe in der Tür, erfasste auf Anhieb den Ernst der Lage und rannte mit einem Schlüsselbund in der Hand zum Tor.
»Er hat was in der Kehle stecken«, sagte Werner, »er hat irgendwas runtergeschluckt.«
Etwa fünf Augenpaare verfolgten, wie Doktor Hoppe den kleinen Georg aus den Armen des Vaters entgegennahm. Die neugierigen Blicke galten eher dem gesenkten Kopf mit dem roten Haar als dem Gesicht des Kindes, das bereits leicht blau angelaufen war. Ohne ein Wort zu sagen, schlang der Doktor die Arme von hinten um den Oberkörper des bewusstlosen Kleinen, verschränkte die Hände und presste kurz so fest auf den mageren Brustkorb, dass das runde Objekt aus der Kehle des Opfers heraussprang. Die Murmel klackste auf den Bürgersteig und kullerte zum langen Meekers hinüber, der sich inzwischen auch den Umstehenden angeschlossen hatte.
Dann legte Doktor Hoppe den Jungen auf den Rücken, kniete sich neben ihn und brachte seinen Mund an den des Kindes. Reihum hielt man den Atem an, und deutlich war zu vernehmen, wie hier und dort jemand schluckte. Georgs Mutter schluchzte auf, während Irma Nussbaum sich bekreuzigte und laut zu beten anfing. Andere Umstehende wandten den Blick ab, als der Doktor ein paar Mal
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