Der Engelsturm
zu sehen – und zwar in jener besseren Welt, von der du gesprochen hast.
Er legte sich zurück, schloss die Augen und wartete auf die willkommene Umarmung des Schlafs.
18
Der Schattenkönig
imons ganze Welt war auf die Länge zweier Arme zusammengeschrumpft, die ihm und dem König gehörten. Im Raum war es finster. Elias umklammerte ihn mit kalten Fingern, sein Griff war unentrinnbar wie Handschellen.
»Sprich.« Eine Dampfwolke wie Drachengischt begleitete die Stimme, obwohl Simons eigener Atem unsichtbar blieb. »Wer bist du?«
Simon rang nach Worten, brachte aber keinen Ton hervor. Es war ein Albtraum, ein furchtbarer Traum, und er konnte nicht aufwachen.
»Sprich, verdammter Kerl. Wer bist du?« Der schwache Glanz der königlichen Augen wurde schmaler und verschwand fast in den Schatten, die sein Gesicht verbargen.
»N-n-niemand«, stotterte Simon. »Ich bin n-n-niemand.«
»Tatsächlich?« Eine Spur mürrischer Belustigung. »Und was willst du hier?«
Simons Kopf enthielt weder Gedanken noch Ausreden. »Nichts.«
»Du bist niemand … und du willst nichts.« Elias lachte leise. Es klang wie zerreißendes Pergament. »Dann gehörst du ganz bestimmt hierher, zu all den anderen Namenlosen.« Er zerrte Simon einen Schritt näher zu sich heran. »Lass dich anschauen.«
Das zwang auch Simon, dem König ins Gesicht zu starren. Im trüben Licht war er nur schwer zu erkennen, aber Simon hatte das Gefühl, er sehe nicht ganz menschlich aus. Den bleichen Arm umgab ein leichter Schimmer, trübe wie glimmendes Sumpfwasser, und obwohl es feucht und sehr kalt im Zimmer war, bedeckten Schweißperlen jedes sichtbare Stück seiner Haut. Doch so fiebrig er auchscheinen mochte, der Arm des Königs war knotig von Muskeln und sein Griff hart wie Stein.
An seinem Bein lehnte etwas Schattenhaftes, das lang und schwarz war. Eine Scheide. Simon konnte das Ding, das darin steckte, spüren, unbestimmt, wie ein Gesang aus weiter Ferne. Das Lied drang tief in den geheimsten Bereich seiner Gedanken. Er wusste, dass er sich gegen diese Faszination wehren musste. Die wirkliche Gefahr war weit unmittelbarer. »Jung, wie ich sehe«, bemerkte Elias langsam. »Und hellhäutig. Was bist du, einer von Pryrates’ Schwarzen Rimmersmännern? Oder Thrithingvolk?«
Simon schüttelte den Kopf, antwortete aber nicht.
»Für mich ist alles gleich«, murmelte Elias. »Welches Werkzeug Pryrates auch wählt, es kümmert mich nicht.« Er spähte in Simons Gesicht. »Ah, ich sehe, dass du zurückzuckst. Natürlich weiß ich, warum du hier bist.« Er lachte rauh. »Der verdammte Priester hat seine Spitzel überall – warum nicht auch in seinem eigenen Turm, wo er Geheimnisse hütet, die er nicht einmal seinem Herrn und König zeigen will?«
Die Umklammerung lockerte sich etwas. Wieder schlug Simons Herz schneller – vielleicht konnte er sich doch losreißen? Aber der König hatte sich nur anders hingesetzt. Ehe Simon mehr tun konnte, als über eine Flucht nachzudenken, schloss sich die Klaue wieder enger.
Aber ich muss darauf achten, ermahnte sich Simon und strengte sich an, die Hoffnung nicht zu verlieren. O Gott, wenn er mich loslässt, gib, dass die Eingangstür noch offen ist!
Ein plötzliches Zerren am Arm zwang ihn in die Knie.
»Nach unten, Junge, wo ich dich sehen kann, ohne mir den Hals zu verrenken. Dein König ist müde, und seine Knochen tun ihm weh.« Kurze Zeit herrschte Schweigen. »Seltsam. Du hast weder die Züge eines Rimmersmanns noch eines Thrithingreiters. Eher siehst du nach einem meiner erkynländischen Bauern aus. Dieses rote Haar! Aber man sagt ja, die Grasländer seien einst aus Erkynland gekommen, vor langer Zeit …«
Wieder glaubte Simon zu träumen. Wie konnte der König in dieser Finsternis die Farbe seiner Haare erkennen? Simon bemühte sich,ruhig zu atmen und seine Angst zu unterdrücken. Er hatte einem Drachen gegenübergestanden – einem echten Drachen, nicht einem menschlichen wie diesem – und das schwarze Grauen der Tunnel überlebt. Er musste seine fünf Sinne zusammenhalten und jede Gelegenheit wahrnehmen, die sich ihm bot.
»Einst war ganz Erkynland – und überhaupt alle Länder von Osten Ard – wie das Grasland«, zischte Elias. »Nichts als kleine Stämme, die sich um Weidegründe zankten, Pferdediebe, Wilde.« Er holte tief Atem und stieß ihn langsam aus; der Geruch hatte etwas sonderbar Metallisches. »Eine starke Hand war nötig, um das zu ändern. Man braucht eine starke Hand, wenn man
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