Der Engelsturm
ihm dabei kalt über den Rücken lief.
»Ein Sohn. Ich brauchte einen Sohn. Einen, den ich erziehen konnte, wie mein Vater mich erzogen hat, einen, der verstand, um was es ging. Töchter …« Er stockte und atmete mehrmals rasselnd ein und aus. »Ich hatte eine Tochter. Früher. Aber eine Tochter ist nicht das Gleiche. Man muss hoffen, dass der Mann, den sie heiratet, alles versteht, dass er das richtige Blut mitbringt, weil er es sein wird, der herrscht. Und welchem Mann, der nicht sein eigenes Fleisch und Blut ist, kann ein Vater die Welt als Erbe anvertrauen? Und doch, ich hätte es versucht. Ich hätte es versucht … aber sie wollte nicht. Verfluchtes, aufsässiges Kind!« Seine Stimme hob sich. »Ich gab ihr alles – ich gab ihr das Leben, verflucht soll sie sein! Aber sie lief davon, und alles wurde zu Asche. Wo war mein Sohn? Wo war er?«
Die Hand des Königs krampfte sich in Simons Haar, bis es schien, als wollte er es von der Kopfhaut reißen. Simon biss sich auf die Lippen, um nicht zu schreien, von neuem erschrocken, in welche Richtung Elias’ Wahn sich gewendet hatte. Die Stimme aus dem Schatten des Sessels wurde lauter. »Wo bist du gewesen? Ich habe gewartet, bis es nicht mehr ging. Dann musste ich selbst Maßnahmen treffen. Ein König kann nicht warten, verstehst du? Wo warst du? Ein König kann nicht warten. Sonst fällt alles auseinander. Es zerfällt, und alles, was mein Vater mir gab, wäre verloren.« Seine Stimme steigerte sich zum Schrei. »Verloren!« Er beugte sich vor, bis sein Gesicht nur eine Handbreit von Simons Augen entfernt war. »Verloren!«, zischte er mit stierem Blick. Seine Züge glänzten vor Schweiß. »Weil du nicht gekommen bist!«
Simon wartete wie ein Kaninchen im Fang des Fuchses. Sein Herzklopfte wild. Als die Hand des Königs in seinem Haar sich lockerte, duckte er sich und erwartete den Hieb.
»Aber Pryrates kam zu mir«, flüsterte Elias. »Beim ersten Mal hatte er versagt, nun aber kam er mit Worten, Worten wie Rauch. Es gäbe einen Weg, die Dinge ins Lot zu bringen.« Er schnaubte verächtlich. »Ich wusste, dass er nur nach Macht gierte. Denn weißt du, das ist die Kunst eines Königs: die zu benutzen, die ihn benutzen wollen. So stehen die Dinge. Das lehrte mich mein Vater, darum hör mir gut zu. Ich habe Pryrates benutzt, wie er mich benutzt hat. Jetzt aber geht sein kleiner Plan nicht auf, und er versucht es vor mir zu verbergen. Aber ich habe meine eigenen Wege, etwas zu erfahren, verstehst du? Dazu brauche ich keine Spione, keine herumschnüffelnden Bauernjungen. Selbst wenn ich die Stimmen nicht hörte, die durch die schlaflosen Nächte heulen, ist der König doch kein Narr. Was soll diese Reise nach Wentmünd – was will Pryrates schon wieder dort, jetzt, wo der rote Stern emporsteigt? Was gibt es schon in Wentmünd außer einem Berg und einem Leuchtfeuer am Hafen? Was ist dort zu tun, das nicht längst getan ist? Er sagt, es sei ein Teil des großen Plans, aber ich glaube ihm nicht. Ich glaube ihm nicht.«
Elias keuchte, vornübergebeugt und mit zuckenden Schultern, als wolle er schlucken und könne nicht. Simon lehnte sich zurück, aber sein Arm wurde noch immer stahlhart festgehalten. Er überlegte, ob er sich losreißen könnte, wenn er sich mit aller Kraft nach hinten würfe. Aber der Gedanke an das, was geschehen könnte, wenn der Versuch misslang und er die Aufmerksamkeit des Königs wieder darauf lenkte, wer er war und was er hier suchte, genügte, ihn zitternd auf den Knien neben dem Sessel ausharren zu lassen. Die nächsten Worte des Königs verdrängten jeden Fluchtgedanken aus seinem Kopf.
»Ich hätte wissen sollen, dass etwas nicht stimmte, als er mir von den Schwertern erzählte«, sagte der König heiser.
»Ich bin kein Dummkopf, den man mit solchen Ammenmärchen erschrecken kann, aber das Schwert meines Vaters … es verbrannte mich. Als wäre es verflucht. Und dann bekam ich … das andere.« Obgleich es nur ein paar Zoll entfernt an seiner Hüfte hing, sah derKönig Leid nicht an, sondern richtete den gequälten Blick zur Decke. »Es hat mich … verändert. Pryrates sagt, es sei zu meinem Besten. Er sagt, ich würde nicht erhalten, was er mir versprochen hat, solange der Vertrag nicht erfüllt ist. Aber jetzt fließt es in mir wie mein eigenes Blut, das Hexending. Jede Nacht singt es zu mir. Sogar am Tag hockt es an meiner Seite wie ein Dämon. Verfluchte Klinge!«
Simon wartete darauf, dass der König weitersprach, aber Elias
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