Der Engelsturm
war wieder in Schweigen versunken. Er atmete schwer und hatte den Kopf noch immer in den Nacken gelegt, um nach oben zu starren. Endlich, als es aussah, als sei der König tatsächlich eingeschlafen oder hätte vergessen, was er sagen wollte, nahm Simon allen Mut zusammen und fragte: »Und d-das Schwert Eures V-Vaters? Wo ist es?«
Elias senkte den Blick. »In seinem Grab.« Eine Sekunde begegneten seine Augen Simons Augen. Dann spannten sich seine Kiefermuskeln, und er fletschte boshaft grinsend die Zähne. »Und was geht dich das an, Spion? Warum will Pryrates etwas über das Schwert wissen? Ich habe gehört, wie nachts darüber gesprochen wurde. Ich habe viel gehört.« Seine Hand griff nach oben, und die Finger schlossen sich um Simons Gesicht wie Stahlreifen. Er hustete rauh und schnaufte, aber sein Griff blieb fest. »Dein Herr wäre stolz auf dich, wenn du mir entkommen wärst, um es ihm zu erzählen. Das Schwert, wie? Das Schwert? Gehört das zu seinem Plan, das Schwert meines Vaters gegen mich zu verwenden?« Das Gesicht des Königs war jetzt überströmt von Schweiß. Seine Augen wirkten vollständig schwarz, Löcher in einem Schädel voll zwitschernder Dunkelheit. »Was plant dein Gebieter?« Ein mühsamer Atemzug. »Sag es mir!«
»Ich weiß nichts!«, rief Simon. »Ich schwöre es!«
Ein furchtbarer Hustenanfall schüttelte Elias. Er ließ das Gesicht seines Gefangenen los und sank in den Sessel zurück. Wo seine Finger ihn berührt hatten, fühlte Simon ein eisiges Brennen. Die Hand um Simons Gelenk schloss sich enger, als der König erneut hustete und nach Atem rang.
»Gottes Fluch über alles«, keuchte Elias. »Hol mir meinen Mundschenk!«
Simon erstarrte wie eine erschrockene Maus.
»Hast du nicht gehört?« Der König ließ Simons Hand los und gab ihm einen zornigen Wink. »Hol den Mönch. Sag ihm, er soll meinen Becher bringen.« Wieder schnappte er nach Luft. »Such ihn!«
Simon rutschte auf den Steinen nach hinten, bis er außer Reichweite des Königs war. Elias war wieder im Schatten verschwunden, aber seine kalte Gegenwart war noch immer stark. Dort, wo der König ihn gequetscht hatte, schmerzte Simons Arm, aber der Schmerz war ein Nichts im Vergleich zu der Aussicht, entkommen zu können, die Simon fast das Herz stillstehen ließ. Er rappelte sich auf und warf dabei einen Stapel Bücher um. Als sie krachend zu Boden fielen, duckte sich Simon vor Angst, aber Elias rührte sich nicht.
»Hol ihn«, knurrte der König.
Simon schlich langsam zur Tür, fest überzeugt, dass er jeden Augenblick hören würde, wie sich hinter ihm der König schwankend aus dem Sessel erhob. Dann war er auf dem Treppenabsatz, außer Sichtweite des Sessels, und eine Sekunde später auf der Treppe. Er nahm nicht einmal seine Fackel mit, obwohl er sie mit der Hand hätte greifen können, sondern rannte im Dunkel die Stufen hinunter, so sicher, als laufe er im hellen Sonnenschein über eine Wiese. Er war frei! Er hatte keinerlei Hoffnung mehr darauf gehabt, aber er war frei. Frei!
Auf den Stufen gleich oberhalb des ersten Absatzes stand eine kleine, dunkelhaarige Frau. Einen kurzen Moment begegneten ihm ihre gelben Augen, bevor sie zur Seite trat. Stumm sah sie ihn vorbeispringen. Mit einem Satz war er an der Vordertür des Turms und draußen im nebligen, mondbeschienenen Inneren Zwinger. Ihm war zumute, als wüchsen ihm Flügel und er könnte hinaufsteigen in den Wolkenhimmel. Aber schon nach zwei Schritten waren die Gestalten in den schwarzen Mänteln über ihm, lautlos wie Katzen. Sie packten ihn mit dem gleichen festen Griff wie der König, nur dass sie beide Arme hielten. Die weißen Gesichter musterten ihn gleichmütig. Die Nornen schienen keineswegs überrascht, einen fremden Sterblichen auf den Stufen des Hjeldinturms ertappt zu haben.
Als Rachel erschrocken zurückfuhr, fiel das Bündel in ihrer Hand auf den rauhen Steinboden. Es schepperte so laut, dass sie zusammenzuckte.
Das Knirschen der Schritte wurde lauter, und ein Glühen kroch den Tunnel hinauf, wie eine Morgendämmerung im Inneren der Erde. Sie mussten gleich bei ihr sein. Rachel duckte sich in eine Nische der Mauer und suchte nach einem Versteck für ihre Lampe. Schließlich stellte sie das verräterisch helle Ding verzweifelt zwischen ihre Beine und bückte sich darüber, wobei sie ihren Mantel wie einen Vorhang um sich ausbreitete, sodass der Saum den Boden bedeckte. Sie hoffte nur, dass die Fackeln, die die Näherkommenden trugen, sie so
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