Der Erbe der Nacht
förderte eine kleine, goldbe-druckte Visitenkarte zutage, die ich in der Tasche meines Hausmantels verschwinden ließ, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen.
»Fragen Sie Ihren Großvater nach mir«, sagte er.
»Ich bin sicher, er wird sich erinnern. Und entschuldigen Sie noch einmal die späte Störung.«
Ich entschuldigte nicht, sondern blickte ihn und Goliath nur finster an, und nach einer weiteren Sekunde drehte sich H. P.
eindeutig verlegen um und begann den kiesbestreuten Weg zum Tor wieder hinabzugehen. Rowlf folgte ihm. Aber nach ein paar Schritten blieb H. P. noch einmal stehen, drehte sich zu mir herum und zog in der gleichen Bewegung seine Taschenuhr hervor.
»Wie spät ist es, sagten Sie noch, Sir?« fragte er, während er den Deckel aufklappte.
»Fast halb eins«, knurrte ich. »Nachts.«
»Oh!« H. P. schien ehrlich überrascht. »Und ich hätte ge-schworen, daß ich die Uhr dreizehn schlagen gehört habe.« Er lächelte entschuldigend, klappte den Deckel wieder zu und ging.
Es dauerte fast zehn Sekunden, ehe das, was er gesagt hatte, in mein Bewußtsein drang. Aber dann fuhr ich zusammen wie unter einem elektrischen Schlag und war mit einem einzigen Satz die Treppe hinunter und hinter ihm her.
»Sir!« rief ich. »So warten Sie doch! Was haben Sie da gesagt?!«
Aber sowohl H. P. als auch Goliath schienen mit einemmal mit Taubheit geschlagen zu sein, denn sie gingen einfach weiter, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Als ich das schmiedeeiserne Gartentor erreichte was immerhin eine Strecke von gut dreißig Yards war , hatten sie bereits den Bürgersteig verlassen und waren dabei, die Straße zu überque-ren.
Ich bemerkte erst jetzt, daß Nebel aufgekommen war
schwere, graue Schwaden, die reglos wie leuchtender Rauch in der Luft hingen, aber sehr dicht waren. Obgleich H. P. und sein strubbelköpfiger Begleiter nur wenige Schritte vor mir gingen, konnte ich sie nur mehr als vage Schemen erkennen. Und der Nebel war eiskalt. »So warten Sie doch!« rief ich. Aber es war wie verhext H. P. wollte oder konnte mich augenscheinlich nicht hören, denn er setzte seinen Weg in aller Ruhe fort, und dabei es war richtig unheimlich entfernten er und Rowlf sich mehr und mehr von mir, obwohl sie in gemächlichem Schritt gingen, während ich aus Leibeskräften rannte. Als ich auf die Straße hinabsprang, hatten sie bereits die gegenüberliegende Seite erreicht und bestiegen ihr Fahrzeug: kein Auto, kein wartendes Taxi, sondern eine zweispännige Pferdedrosch-ke, auf deren Bock Rowlf jetzt mit erstaunlicher Behendigkeit hinaufkletterte, während H. P. ohne sonderliche Hast den Schlag öffnete und hineinstieg. Ehe er die Tür schloß, wandte er mir noch einmal das Gesicht zu, und für einen Moment war mir, als begegneten sich unsere Blicke. Aber dann sah er weg, die Tür fiel zu, und Rowlf hob seine Kutscherpeitsche. Fetzen grauen, feuchten Nebels schoben sich wie ein Vorhang zwischen mich und das unglaubliche Bild.
»So bleiben Sie doch stehen!« rief ich verzweifelt.
»Warten Sie, Sir! Es tut mir leid!« Ich rannte, so schnell ich nur konnte, aber der Abstand zwischen mir und dem absurden Gefährt wurde einfach nicht kleiner.
Wie in Zeitlupe sah ich Rowlf die Peitsche schwingen, die Pferde legten sich ins Geschirr, und das Fuhrwerk rollte an.
Ich mobilisierte noch einmal alle Kräfte, und für einen winzigen Moment glaubte ich sogar aufzuholen.
Aber dann wurde der Nebel noch dichter, war plötzlich wie eine massive graue Wand, die die Welt zwei Schritte vor mir einfach geschluckt hatte, und ein unheimlicher, eisiger Hauch umwehte mich.
Irritiert blieb ich stehen, rief noch einmal H. P.s Namen und wartete vergeblich auf eine Antwort. Vor mir war nichts als graue Unendlichkeit, in der ich nur einmal für Sekundenbruch-teile einen schwarzen, klobigen Schatten zu erkennen glaubte.
Dann, so schnell und lautlos, wie er gekommen war, trieb der Nebel wieder auseinander. Nach wenigen Augenblicken waren die erstickenden Schwaden spurlos verschwunden.
Und mit ihnen die Kutsche.
Es kam, wie ich es befürchtet hatte an Schlaf war für den Rest dieser Nacht nicht mehr zu denken. Ich ging zurück ins Haus, verwirrter und wenngleich ich das in diesem Augenblick nicht einmal mir selbst so recht eingestehen wollte auch ein gutes Stück ängstlicher als zuvor, aber die große Ausspra-che mit meinem Großvater fand dennoch nicht mehr statt.
Er stand am Fenster, als ich ins Arbeitszimmer trat, es war also
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