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Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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nickte nur abwesend, ließ sich schwer in den Stuhl mir gegenüber fallen und griff kommentarlos nach seiner Kaffeetasse.
    »Guten Morgen«, sagte ich betont.
    Großvater sah auf, blickte mich an, als sehe er mich jetzt zum erstenmal, und murmelte etwas, das sich mit sehr viel gutem Willen tatsächlich wie »N’Morgn« anhörte. Ich runzelte die Stirn, schwieg aber vorerst.
    Ich ließ eine Minute verstreichen. Dann zwei.
    Schließlich fünf. Großvater machte keinerlei Anstalten, ein Gespräch zu beginnen, geschweige denn, mir irgend etwas zu erklären.
    »Wundert es dich gar nicht, daß ich schon auf bin?« fragte ich endlich.
    Großvater sah hoch, schüttelte den Kopf und blickte wieder in seine Zeitung. Das tat er jeden Morgen. Aber normalerweise pflegte er nicht fünf Minuten lang ununterbrochen dieselbe Spalte anzustarren, ohne sie zu lesen.
    »Du hast nicht gut geschlafen?« fragte er.
    »Nein«, antwortete ich. »Aber du auch nicht.«
    Das wirkte. Er blickte abermals hoch, ließ schließlich die Zeitung sinken und schüttelte andeutungsweise den Kopf.
    »Glaubst du nicht, daß wir reden sollten?« fragte ich.
    »Reden?«
    Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf die Standuhr. Übrigens hatte ich es bisher fast krampfhaft vermieden, sie auch nur anzusehen. »Zum Beispiel darüber«, sagte ich. »Oder über einen gewissen H. P.. der zu nachtschlafender Zeit an der Tür läutet und dann im Nebel verschwindet. Du kennst ihn.« Das Fragezeichen, das ich eigentlich ans Satzende hatte setzen wollen, verbiß ich mir im letzten Augenblick, als ich sah, wie Großvater bei der Erwähnung dieses Namens zusammenfuhr.
    »Ich … bin ihm einmal begegnet«, antwortete er stockend.

    »Aber es ist lange her. Ich hatte ihn vergessen.« Seine Ruhe täuschte mich nicht. Unter der aufgesetzten Maske des englischen Gentleman, den nichts zu erschüttern vermochte, zitterte er wie Espenlaub. Plötzlich tat er mir leid, und ich kam mir gemein dabei vor, diesem alten Mann so zuzusetzen.
    Aber ich mußte es tun.
    »Bitte, Mac«, fuhr ich fort, sehr viel leiser, aber in kaum weniger drängendem Ton. »Was geht hier vor?
    Was war das gestern abend?«
    Großvater schwieg lange, endlose Sekunden, und als er endlich sprach, da war seine Stimme völlig verändert: brüchig und schwach und mit einem deutlich hörbaren Unterton von Furcht. »Du hast wohl recht«, sagte er. »Ich werde es dir erklären. Das heißt, soweit ich es kann. Ich hätte es schon längst tun sollen«, fügte er noch leiser hinzu. Er stand auf, blickte einen Moment lang zur Uhr hinüber und ging dann zur Tür. Ich hörte, wie er nach Mary rief. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis sie kam und nach seinen Wünschen fragte.
    »Sorgen Sie bitte dafür, daß wir nicht gestört werden«, sagte Großvater. »Keine Besucher oder Telefonanrufe.« Er schloß die Tür, drehte sich wieder herum und ging zum Kamin. Seine Hand tastete nach dem großen, geschmacklosen Bild mit dem goldenen Rahmen, das darüber hing und verharrte einen Moment.
    Etwas klickte, und dann klappte das ganze Kitschkunstwerk beiseite. Dahinter kam die Tür eines kleinen, aber äußerst stabil aussehenden Wandtresors zum Vorschein.
    Ich war verblüfft, gelinde gesagt. Immerhin war ich in diesem Haus aufgewachsen und hatte mir eingebildet, jeden Zentimeter davon zu kennen aber bisher hatte ich nur von dem alten, kaputten Safe im Salon gewußt, über dessen Nutzlosigkeit mein Großvater und ich schon so oft gelacht hatten. Und da war noch etwas. Der Tresor hatte kein Schloß.

    Kein Schlüsselloch, und auch kein Kombinationsschloß. Die Tür schwang wie von Geisterhand bewegt auf, als mein Großvater sie mit den Fingerspitzen berührte. Für einen Moment kam mir vor, als würde er dabei irgend etwas mur-meln, aber das mußte eine Täuschung sein.
    So weit, daß ich an Zaubersprüche à la Sesam-öffne-dich glaubte, war ich nun doch noch nicht.
    Großvater griff in den Tresor, wuchtete etwas heraus, das sich als großformatiges, in schwarzes, steinhartes Leder gebundenes Buch entpuppte, und trug es ächzend zum Tisch.
    Es schien sehr schwer zu sein, aber er schüttelte nur den Kopf, als ich ihm helfen wollte. Das kleine Beistelltischchen wackelte bedrohlich unter dem Gewicht des riesigen Buches, als er es darauf ablud. Merlin fauchte und verschwand unter dem Bücherregal.
    Ich beugte mich neugierig vor und versuchte einen Blick auf den Titel des Buches zu werfen, aber die Buchstaben waren so verblichen, daß

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