Der Erdbeerpfluecker
lauter kleine Orte, die nicht dafür geschaffen waren. Bert hatte Kopfschmerzen und fühlte ein Pochen im Magen. Er drehte das Radio aus und spürte, wie seine angespannten Nerven sich augenblicklich beruhigten.
Manchmal wünschte er sich einen Beruf, in dem er mit keiner Menschenseele reden müsste. Sein Hals war rau vom vielen Sprechen. Seine Augen waren müde. Und er fühlte sich überanstrengt von der Konzentration des Zuhörens.
Das Gespräch mit der Tochter der Thalheim war noch am angenehmsten gewesen. Worüber er nachgegrübelt hatte, war das Verhalten ihrer Freundin, dieser Merle. Die hatte sich benommen, als hätte sie ein schlechtes Gewissen gehabt. Was konnte der Grund dafür sein? Er glaubte nicht, dass es mit Caros Tod zu tun hatte. Aber er würde das Mädchen auf alle Fälle im Auge behalten.
Was ihn wirklich geschafft hatte, war der Besuch von Caros Eltern gewesen. Kalt wie Hundeschnauze. Ohne Gefühl. Die Frau hatte sein Büro vollgepafft, ihr Mann war, wie schon beim ersten Gespräch, ruhelos hin und her gewandert, die Hände auf dem Rücken.
Beide hatten in kurzen, abgehackten Sätzen gesprochen, nicht aus Verzweiflung, sondern aus Gewohnheit, wie es schien. Sie hatten sich aggressiv verhalten, Gott und der Welt und auch ihrer toten Tochter Vorwürfe gemacht.
»Um unsereins wird sich ja nicht gekümmert«, hatte Frau Steiger gesagt. Sie hatte nicht erläutert, was sie damit meinte, hatte die Bemerkung einfach in den Raum geworfen.
Caro war in den Augen ihrer Eltern eine Verräterin gewesen. Hatte sich aus dem Staub gemacht, sich aus der Verantwortung gestohlen. Und sich dieser reichen Schnepfe, der Tochter dieser Bestsellerautorin, wie hieß sie doch gleich, an den Hals geworfen.
»... und hat sich für uns geschämt.«
Hochnäsig sei die Tochter gewesen. Sie habe sich schon immer für was Besseres gehalten. Und ständig Unfrieden gesät.
»... bis dann auch der Kalle gegen uns war.«
Der Bruder war zurzeit nicht auffindbar. Untergetaucht. Irgendwo. Es kümmerte sie nicht, wo er sich aufhielt, wie er lebte, ob er vielleicht in Schwierigkeiten steckte.
»... er ist alt genug. Muss wissen, was er tut.«
Das Sozialamt war schuld am Elend der Familie. Das Jugendamt. Der Bewährungshelfer, der nicht dafür gesorgt hatte, dass Kalle mit den Einbrüchen aufhörte. Vielleicht würden sie sich mal für eine Talkshow bewerben. Um mal so richtig Dampf abzulassen.
Kannten sie Caros Freunde?
»Null Interesse. War schon mit zwölfne Schlampe.«
Im ersten Moment dachte Bert, er habe sich verhört. Aber der Vater hatte es wirklich gesagt. Eine Schlampe. Schon mit zwölf.
Bert hatte Lust, ihm eine reinzuhauen. Seine Professionalität rettete ihn. Er schottete sich ab. Darin hatte er Übung. Wenn er dichtgemacht hatte, erreichten die Worte, die er hörte, keine tiefere Schicht in ihm. Es war notwendig zum ßberleben. Das hatte er schon als Kind gewusst.
Es gelang ihm sogar, Caros Eltern anzulächeln. Eine ganz mechanische Geste und äußerst hilfreich, wenn er jemanden zum Reden bringen wollte.
Sie fielen darauf herein. Er hatte es nicht anders erwartet.
Aufmerksam hörte er ihnen zu, achtete auf die Untertöne. Die Steigers zeichneten ein Bild ihrer Tochter, das von der mangelnden Liebe der Eltern und ihrem jahrelangen Misstrauen, von ungebremster Gewalt und immer noch spürbarer Wut geprägt war. Bert verstand, warum Caro ausgebrochen war.
Er wusste, wie viel Mut dazu gehörte. Er wusste es, weil er selbst ihn nicht aufgebracht hatte. Tag für Tag hatte er unter den Exzessen seines Vaters gelitten. Tag für Tag mit der Angst vor ihm gelebt. Was hätte er auch tun sollen? Er konnte seine Mutter nicht allein zurücklassen.
Sein Vater hatte Frau und Sohn als Eigentum betrachtet. Man müsse ihnen die Flügel stutzen, hatte er gebrüllt. Damit sie nicht übermütig würden. Aber er hatte ihnen die Flügel nicht gestutzt. Er hatte sie ihnen gebrochen.
Es dauert lange, bis gebrochene Flügel heilen. Manchmal tat es heute, nach vielen Jahren, noch weh.
Caro schien eine ähnliche Odyssee hinter sich gebracht zu haben. Bert erinnerte sich an den Anblick ihrer nackten Arme und der Hals wurde ihm eng. »Hatte sie sich schon lange selbst verletzt?«, fragte er.
Frau Steiger sah ihn mürrisch an. »Auch bloß son Theater.«
»Und?« Bert beherrschte sich mühsam. »Hat Ihre Tochter Hilfe bekommen?«
»Von sonem Psychoheini?« Der Vater lachte auf. »So einer hätt uns grad noch
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