Der Erdbeerpfluecker
gefehlt.«
Die Luft im Büro wurde mit einem Mal stickig, nicht nur wegen der vielen Zigaretten. Bert riss das Fenster auf. Allmählich verlor er die Beherrschung. Es war Zeit, das Gespräch zu beenden.
Das machte er kurz und bündig. Hielt ihnen die Tür auf, nickte ihnen zum Abschied nur zu. Um nichts in der Welt hätte er jetzt ihre Hand anfassen mögen.
Er tat seine Arbeit und versuchte, nicht zu fühlen.
Das war leicht gesagt. Er hatte seine Gefühle nur dann unter Kontrolle, wenn er gut drauf war. Gut drauf. Das kam selten vor.
Caro hatte es geschafft, ihn vergessen zu lassen. Caro und ihr Wolkenkuckucksheim.
Denn natürlich war es nie mehr gewesen als das. Jetzt war es ihm klar. Sie hatte nicht in der Wirklichkeit gelebt. Das hatte ihn fasziniert. Sie hatte ihn mitgenommen zu Ausflügen in eine Welt, die sie sich geschaffen hatte. In dieser Welt gab es keine Gewalt, keinen Hunger und keine Kriege. Es war eine Welt der vollkommenen Harmonie.
Anfangs hatte er vermutet, sie habe Drogen genommen. Aber das war nicht so. Sie brauchte dieses Zeug nicht. Sie war aus sich heraus verrückt. Irre auf eine liebenswerte, ihn bezaubernde und entwaffnende Art und Weise.
Seiner Mutter hätte Caro nicht gefallen. Sie hätte keinen Zugang zu ihr gefunden. Für sie mussten Mädchen still sein, bescheiden und unauffällig. So, wie sie selbst ihr Leben lang zu sein versucht hatte.
Vergebens. Immer war unter ihrer geglätteten Fassade das Bild des Mädchens hervorgeblitzt, das sich Hals über Kopf verliebt hatte. Mit Folgen, die ihre ganze Zukunft bestimmt hatten.
Für Georg war Caro eine Offenbarung gewesen. Sie hatte all das verkörpert, was er in einem Mädchen suchte. Sie war jung gewesen, schön, kindlich und rein. Ihr Glaube an das Gute im Menschen hatte etwas unsäglich Rührendes gehabt, vor allem, wenn man an ihre lieblose Kindheit dachte.
»Mit dir«, hatte sie zu ihm gesagt und sich in seine Arme gekuschelt, »mit dir würde ich alles schaffen, mich vielleicht sogar mit meinen Eltern versöhnen.«
Er hatte ihr gern zugehört. Er hatte den Klang ihrer Stimme geliebt, die erwachsener war als sie selbst. Und wenn sie schweigsam und nachdenklich gewesen war, hatte er auch das an ihr gemocht. Mit Caro hatte er schweigen können.
Erdbeeren. Schnurgerade, endlose Reihen von Pflanzen. Dazwischen Hände, Arme, gebeugte Rücken, Haare, Sonne, Hitze, Schweiß, Geräusche, Worte und Lachen. Und über allem der intensive Duft der reifen Früchte.
Georg arbeitete und schwieg. Er hatte niemanden mehr, mit dem er das Schweigen teilen konnte. Also schwieg er allein.
Kapitel 10
Es war der falsche Tag für eine Beerdigung. Die Sonne schien. Die Stimmen der Vögel überschlugen sich. Es kam mir vor, als hätte ich den Himmel noch nie so blau gesehen.
Alles roch nach Sommer. Selbst die alte Friedhofsmauer, in deren Fugen sich Flechten und Moos angesammelt hatten, schien zu duften. Es war kurz vor elf, aber schon so heiß, dass der Asphalt auf den Straßen zu dampfen schien.
Merle und ich gingen zu Fuß. Irgendwie hatten wir das Gefühl, dass es sich so gehörte. Wir wollten Caro so bewusst wie möglich auf ihrem letzten Weg begleiten. Deshalb hatten wir uns gegen Auto oder Bus entschieden.
Ihr letzter Weg. Ich hatte mit diesem Ausdruck nie etwas anfangen können. Früh am Morgen, als ich schlaflos im Bett gelegen hatte, hatte er mich zum Weinen gebracht.
»Wir hätten eine Nacht bei Caro wachen sollen«, sagte Merle. Sie schlief mit diesem Satz ein und stand mit ihm wieder auf. Dazwischen schlug sie sich mit Schuldgefühlen herum.
»Caro ist obduziert worden«, antwortete ich, wie jedes Mal. »Glaubst du im Ernst, sie hätten sie anschließend aufgebahrt?«
»Aber wir haben ja nicht mal gefragt.« Merle blinzelte in die Sonne. »Und jetzt können wir es nicht mehr nachholen.«
Ich hakte mich bei ihr ein. »Hör auf, dich zu quälen, Merle. Wir wollten Caro doch so in Erinnerung behalten, wie sie war.«
Merle nickte heftig. Verzweifelt griff sie nach jedem Strohhalm, den ich ihr hinhielt.
»Außerdem wären wir zu spät gewesen.« Tote, hatte Merle mir einmal erklärt, hören und fühlen noch Stunden nach ihrem Tod. In diesen Stunden sei es wichtig, bei ihnen zu sein, mit ihnen zu sprechen und sie zu berühren. »Caro war schon zu lange tot. Sie hätte uns nicht mehr wahrgenommen.«
Wir kämpften beide gegen die Tränen an. Den Rest des Wegs legten wir schweigend zurück.
Wenn wir gedacht hatten,
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