Der Erdbeerpfluecker
wir jetzt schon«, sagte Merle draußen und zählte die Informationen an den Fingern ab. »Dass er um die Dreißig ist und groß und dunkelhaarig, und dass er Frauen den Kopf verdrehen kann. Diese Anita war ja ganz vernarrt in ihn.«
»Und dass er gut zuhören kann«, sagte ich.
»Und dass er heftig in Caro verliebt war.« Merle schüttelte den Kopf. »Man bringt nicht jemanden um, in den man so verliebt ist.«
»Wer sagt das?« Merle neigte zu Schnellschüssen. In Mathe brachte ihr das nichts als ßrger ein. »Was ist mit Morden aus Leidenschaft?«
»Er hat den Mädchen die Haare abgeschnitten. Bei Caro konnte er das nur deshalb nicht tun, weil sie ihm sozusagen zuvorgekommen war. Das Muster ist also bei jedem Mord das gleiche.«
»Können es nicht lauter Morde aus Leidenschaft gewesen sein?« Ich wollte unbedingt, dass Caro geliebt worden war. Wenigstens das.
»Was glaubst du, wie viele Leidenschaften einem in einem einzigen Leben begegnen?«, fragte Merle ironisch.
Sie hatte Recht. »Und wenn er gar nicht Caros Mörder ist?« Es war doch nicht möglich, dass Caro ihren Mörder geliebt hatte!
»Genau das wollen wir doch herausfinden, Jette.« Merle sprach mit mir wie eine Mutter mit ihrem Kind, geduldig, langsam und nur eine winzige Spur genervt.
»Du willst auch nicht, dass er der Mörder ist«, sagte ich.
»Natürlich nicht.« Merle zog die Liste aus der Tasche. »Es bringt mich nur durcheinander, dass er sich nicht mit uns in Verbindung setzt. Er müsste doch trauern, müsste das Bedürfnis haben, sich auszusprechen, vielleicht das eine oder andere Stück aus Caros Zimmer zu bekommen. Eine Erinnerung.«
»Er wollte schließlich nicht mal, dass Caro uns von ihm erzählte.«
»Richtig«, sagte Merle grimmig. »Ich hab tausend Fragen an ihn. Und deshalb will ich ihn finden.«
Wie oft hatte sie jetzt versucht, Jette oder Merle zu erreichen? Zehnmal? Häufiger? Sie sagte sich, dass Ferien waren und die Mädchen Besseres zu tun hatten als zu Hause herumzusitzen. Aber es half nicht. Sie machte sich Sorgen.
Das Manuskript wuchs Kapitel um Kapitel. Es lief wie geschmiert. Sie hatte noch keinen ihrer Romane in einer solchen, beinah fiebrigen Hast geschrieben. Jedes Buch trug eine eigene Handschrift. Jedes Buch war ein neues Stück ihres Lebens.
Vor einer halben Stunde, bei einer Kaffeepause auf der Terrasse, waren ihr zwei Dinge aufgefallen: dass sie für den kommenden Winter nicht genug Brennholz an der Schuppenwand gelagert hatte und dass ihr der Mörder ihres Romans ans Herz gewachsen war. Die Holzbestellung hatte Zeit, aber von dem Mörder musste sie sich distanzieren, möglichst bald.
Ein paarmal war ihr in den vergangenen Tagen der Gedanke gekommen, dass ihr Schreiben vielleicht den Boden für die schrecklichen Morde bereitet hatte. Ihr Kopf hatte das sofort als Hirngespinst abgetan, aber das Gefühl ließ sich nicht vertreiben.
Sie machte sich noch einen Kaffee und ging mit der Tasse in den Garten hinaus. Der Anblick der unversehrten Landschaft und des Himmels, der darüber gespannt war wie ein blaues Tuch mit weißen Tupfern, beruhigte sie.
Wenn es so wäre, dachte sie, dass meine erfundenen Verbrechen unsichtbare Fäden in der Wirklichkeit spinnen, an denen entlang tatsächliche Verbrechen geschehen, dann würde ich sofort mit dem Schreiben aufhören. Oder nur noch Liebesromane schreiben.
Das Telefon klingelte. Imke hatte, seit sie in diesem großen Haus mitten auf dem Land wohnte, ein Mobiltelefon, das immer griffbereit lag. Sie meldete sich deshalb bereits nach dem zweiten Klingeln.
»Hättest du nicht Lust, mich zu einem Tee einzuladen?«
Ihre Mutter. Und gleich wurde Imke klar, dass sie genau diese Person jetzt brauchte. Ihre Mutter hatte eine Reihe von Macken und war oft kaum auszuhalten, aber in schwierigen Situationen konnte man sich auf sie verlassen. Dann war sie wie ein Fels in der Brandung.
»Wann kannst du hier sein?«
Ein kurzes Schweigen. »Ist es so dringend?«
Ja. Verdammt. Sie mussten reden. Ihre Mutter hatte das, was man einen gesunden Menschenverstand nannte. Irgendwie gelang es ihr immer, alles wieder ins Lot zu bringen. Waren Mütter nicht dafür da?
»Ich setze schon mal Wasser auf.«
Wie ein Kind klammerte sie sich an die Erwartung, dass ein Gespräch mit ihrer Mutter alles Bedrohliche aus dem Weg räumen würde. Und ganz leise begann sie zu summen.
»Ob ich für meine Arbeiter die Hände ins Feuer lege?« Arno Kalmer lachte. Er lachte zu
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