Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
ich zu dir. Du bist noch sehr jung für diese Entscheidung, aber ich kann sie nicht für dich treffen. Wenn du willst, schicke ich dich auf die Insel Rok, wo die Hohen Künste gelehrt werden. Jede Kunst, die du lernen willst, wirst du meistern, denn deine Macht ist groß. Größer als dein Stolz, so hoffe ich. Gern behielt ich dich bei mir, denn was ich habe, das fehlt dir, aber ich will dich nicht gegen deinen Willen zum Bleiben zwingen. So wähle denn zwischen Re Albi und Rok.«
Ged fand keine Worte, sein Herz war in Aufruhr. Er fühlte eine tiefe Zuneigung für Ogion, der zu ihm gekommen war, der ihn durch seine Berührung geheilt hatte und dem der Zorn fremd war. Er liebte ihn, und erst jetzt wußte er es. Er schaute den eichenen Stab an, der in der Ecke beim Kamin lehnte, und sah wieder das Leuchten, das alles Böse aus der Dunkelheit vertrieben hatte, und er fühlte ein Verlangen in sich, mit Ogion durch den Wald zu streifen, weit und lang, und von ihm Ruhe und Stille zu lernen. Doch er fühlte auch, daß in ihm andere Begierden wach waren, die er nicht unterdrücken konnte, ein Streben nach Ruhm, ein Drang nach Taten. Ogions Weg würde ihn nicht geradewegs zum Wissen und zur Meisterschaft führen, gemächlich, auf Umwegen, würde er sein Ziel erreichen, während ihm hier die Gelegenheit geboten wurde, mit vollen Segeln in die innerste Seele zu gelangen und die Insel der Weisen zu erreichen, dort wo die Zauberkräfte in der Luft lagen und der Erzmagier weilte, der alle Künste der Magie meisterte.
»Meister«, sagte er, »ich möchte nach Rok gehen.«
Und so kam es, daß einige Tage später, an einem sonnigen Frühlingsmorgen, Ged an der Seite Ogions den steilen Pfad von Oberfell zum Hafen nach Gont hinunterstieg. Nach fünfzehn Meilen erreichten sie das Stadttor mit den geschnitzten Drachen, wo die Wächter, sobald sie den Magier erkannten, mit gezogenen Schwertern niederknieten und ihn willkommen hießen. Sie erwiesen ihm diese vom Fürsten angeordnete Ehre, taten es aber auch aus eigenem freiem Willen, denn vor zehn Jahren hatte Ogion die Stadt vor einem Erdbeben bewahrt, das die Türme der Reichen bis auf den Boden zerstört und den Kanal zwischen den Festungsklippen mit einem Erdrutsch zugeschüttet hätte. Er sprach zum Berg und beschwichtigte die schwankenden Felsüberhänge, wie man ein scheuendes Tier beruhigt. Ged hatte davon erzählen hören, und als er die Wächter vor seinem schweigsamen Meister knien sah, erinnerte er sich wieder daran. Fast ängstlich blickte er auf Ogion, der die Macht besaß, ein Erdbeben zu bändigen, aber seine Züge waren wie immer unverändert ruhig.
Sie schritten hinab zu den Piers, wo der Hafenmeister eilends auf sie zugelaufen kam, um Ogion zu begrüßen und nach seinen Wünschen zu fragen. Ogion nannte ihm sein Begehr, und der Hafenmeister wußte von einem Schiff, das abfahrbereit im Hafen lag und in die Innensee segeln wollte, auf dem Ged als Passagier mitfahren konnte. »Oder sie nehmen ihn als einen Windbringer an Bord, wenn er etwas davon versteht«, sagte er, »denn sie haben keinen Wettermacher an Bord.«
»Er hat etwas Erfahrung mit Nebel, aber nicht mit Meereswinden«, erklärte der Magier und legte die Hand leicht auf Geds Schulter. »Versuche nicht, mit dem Meer und den Winden des Meeres dein Spiel zu treiben, Sperber. Du bist noch immer eine Landratte. Hafenmeister, wie heißt das Schiff?«
» Schatten , und es kommt von den Andraden und segelt mit Fellen und Elfenbein nach Hort. Es ist ein gutes Schiff, Meister Ogion.«
Das Gesicht des Magiers hatte sich beim Namen des Schiffes verdüstert, aber er sagte: »So sei es denn. Gib diesen Brief dem Hüter der Schule von Rok, Sperber. Mögen günstige Winde dich begleiten. Leb wohl!«
Das war der ganze Abschied. Er wandte sich um und ging mit seinen langen Schritten die Straße hinauf, die vom Kai wegführte. Ged stand verloren da und sah ihn entschwinden.
»Komm mit mir, Junge«, sagte der Hafenmeister und führte ihn zur Anlegestelle, wo die Schatten lag und die letzten Vorbereitungen zum Auslaufen getroffen wurden.
Es mag manchen wundern, daß es auf einer fünfzig Meilen breiten Insel, in einem hoch in den Felsen liegenden, tagaus, tagein unverändert aufs Meer blickenden Dorf vorkommen kann, daß ein Mensch heranwächst und alt wird, ohne je ein Boot bestiegen oder die Hand ins Salzwasser getaucht zu haben, aber das war nichts Ungewöhnliches. Ob Bauer, Ziegen- oder Kuhhirt, Jäger oder Handwerker,
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