Der Erdsee Zyklus Bd. 1 - Der Magier der Erdsee
zu und nahm die beiden Bände der Magierkunde herunter, die Ogion noch nie in seiner Gegenwart geöffnet hatte.
Er suchte nach einer Formel der Selbstverwandlung, aber weil er noch sehr langsam im Runenlesen war und überhaupt nur wenig von dem Gelesenem verstand, so fand er nicht, was er suchte. Diese Bücher waren uralt, Ogion hatte sie von seinem eigenen Meister Heleth Weitblick bekommen, und der wiederum hatte sie von seinem Meister, dem Magier von Perregal, und so weiter und so weiter bis zurück in mythologische Zeiten. Die Schrift war klein und seltsam, es war darüber- und dazwischengeschrieben, und man sah, daß es das Werk vieler Hände war, Hände, die schon lange zu Staub und Asche zerfallen waren. Ab und zu verstand er etwas von dem Gelesenen, aber es waren hauptsächlich der Spott und die Fragen des Mädchens, die ihn zum Weitersuchen veranlaßten, bis er schließlich stutzte, als von einer Beschwörungsformel der Toten die Rede war.
Während er las, langsam, denn er mußte an jeder Rune und an jedem Zeichen herumraten, fühlte er ein Grauen in sich aufsteigen. Seine Augen wurden starr, und er konnte den Blick nicht von der Seite heben, bis er mit der ganzen Beschwörungsformel fertig war.
Als er endlich den Kopf hob, bemerkte er, wie dunkel es im Hause war. Er hatte ohne Licht in der Dunkelheit gelesen. Jetzt konnte er die Runen, die vor ihm aufgeschlagen waren, nicht mehr entziffern. Doch das Grauen, das er in sich fühlte, wuchs und hielt ihn an seinen Stuhl gefesselt. Er fröstelte. Als er einen Blick über die Schulter warf, sah er dort, neben der Tür, einen formlosen, schattenhaften Klumpen hocken, schwärzer als die tiefste Dunkelheit. Es schien, als strecke sich dieses namenlose Etwas nach ihm aus, es schien zu flüstern, ihm leise zuzurufen, aber er konnte die Worte nicht verstehen.
Die Tür flog auf. Ein Mann, umflammt von weißem Licht, betrat den Raum, eine hohe, helle Gestalt, die plötzlich laut und drohend sprach. Das dunkle Etwas verschwand, das Flüstern hörte auf, der Bann war gebrochen.
Das Grauen wurde zwar schwächer in Ged, doch eine tödliche Angst blieb zurück, denn dort unter der Tür stand Ogion der Magier, umstrahlt von hellem Licht, den eichenen Stab in der Hand haltend, der weiß leuchtete.
Ohne ein Wort zu sagen, ging Ogion an Ged vorbei, zündete die Lampe an und legte die Bücher zurück auf das Bord. Dann wandte er sich zu dem Jungen und sagte: »Nie wirst du diese Formel benutzen können, ohne Furcht um deine Macht und um dein Leben zu haben. Hast du um dieser Formel willen die Bücher geöffnet?«
»Nein, Meister«, murmelte er und schämte sich, während er Ogion alles erzählt, was sich zugetragen hatte, was er suchte und warum er es tat.
»Hast du vergessen, daß die Mutter des Mädchens, die Frau des Fürsten, eine Zauberin ist?«
Ged erinnerte sich wieder. Ogion hatte einmal davon gesprochen, aber Ged hatte nicht weiter darauf achtgegeben, obwohl er in der Zwischenzeit gelernt hatte, daß alles, was ihm Ogion sagte, von Bedeutung war.
»Das Mädchen selbst ist fast schon eine halbe Zauberin. Es kann gut sein, daß die Mutter das Mädchen hergeschickt hat, damit sie mit dir rede. Vielleicht war sie es, die das Buch auf der Seite aufschlug, auf der du gelesen hast. Den Mächten, denen sie dient, diene ich nicht. Ihre Absicht ist mir unbekannt, aber eines weiß ich: Mir wünscht sie nichts Gutes. Hör mir gut zu, Ged! Hast du noch nie daran gedacht, daß Macht die Gefahr an sich lockt wie Licht den Schatten? Zauberei ist kein Spiel, das wir zum Vergnügen oder um des Ruhmes willen treiben. Und auch daran denke: Jedes Wort, das wir aussprechen, und jede Handlung, die wir als Zauberer vollbringen, wird entweder um des Guten oder um des Bösen willen getan. Daher mußt du – bevor du sprichst oder handelst – wissen, welchen Preis du dafür zahlen mußt.«
Die Reue quälte Ged, und er rief aus: »Aber wie soll ich denn das alles wissen, wenn Ihr mir nichts sagt? Seit ich bei Euch wohne, habe ich nichts getan, nichts gesehen …«
»Vorhin hast du etwas gesehen«, sagte der Magier. »Dort neben der Tür, in der Dunkelheit, als ich hereinkam.«
Ged sagte nichts mehr.
Ogion kniete am Herd nieder und bereitete das Feuer vor, bevor er es anzündete, denn im Haus war es kalt. Während er noch beim Feuer kniete, sagte er mit seiner ruhigen Stimme: »Ged, mein junger Falke, du bist nicht an mich oder an meinen Dienst gebunden. Du kamst nicht zu mir, sondern
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