Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
Vom Netzwerk:
wie ein Tier aussieht, so daß man eine Minute lang nicht weiß, was man vor sich hat – als hätte er eine Maske aufgesetzt. Aber die großen Zauberer und Magier können mehr. Sie können die Maske sein, sie können sich wirklich in ein anderes Wesen verwandeln. Wenn ein Zauberer das Meer überqueren will und kein Boot besitzt, könnte er sich in eine Möwe verwandeln und hinüberfliegen. Aber er muß vorsichtig sein. Wenn er ein Vogel bleibt, beginnt er zu denken wie ein Vogel, vergißt, was ein Mensch denkt, und vielleicht fliegt er weiter, ist eine Möwe und wird nie wieder ein Mensch. Es heißt, daß es einmal einen großen Zauberer gab, dem es Spaß machte, sich in einen Bären zu verwandeln; er tat es zu oft, wurde zum Bären und tötete seinen eigenen kleinen Sohn; man mußte Jagd auf ihn machen und ihn töten. Doch Ogion hatte auch seinen Spaß daran. Als einmal Mäuse in seine Vorratskammer gelangten und von seinem Käse fraßen, fing er eine mit einem einfachen Mausefallen-Zauber, hielt die Maus in die Höhe, blickte ihr in die Augen und erklärte: ›Ich habe dir gesagt, daß du nicht Mäuschen spielen sollst!‹ Einen Augenblick lang glaubte ich, daß er es ernst meinte …
    In dieser Geschichte geht es um etwas Ähnliches wie das Gestaltwechseln, aber Ogion behauptete, daß es mehr gewesen sei als das Gestaltwechseln, das er kannte, weil es sich darum gehandelt habe, zwei Dinge, zwei Wesen gleichzeitig in der gleichen Gestalt zu sein, und er behauptete, daß dies die Fähigkeiten der Zauberer übersteige. Er stieß in einem kleinen Dorf irgendwo an der Nordwestküste von Gont darauf, in einem Ort namens Kemay. Dort gab es eine Frau, eine alte Fischersfrau, keine Hexe, ungebildet, aber sie erdachte Lieder. Auf diese Weise erfuhr Ogion von ihr. Er wanderte dort, wie es seine Art war, an der Küste entlang und lauschte; er hörte Leute singen, wenn sie ein Netz flickten oder ein Boot kalfaterten, und sie sangen bei der Arbeit:
    Weiter westlich als der Westen
    jenseits des Landes
    tanzt mein Volk
    auf dem anderen Wind.
    Ogion vernahm die Melodie und die Worte; er hatte sie noch nie gehört, deshalb fragte er, woher das Lied stamme. Er bekam hier eine Antwort und dort eine und ging immer weiter, bis jemand sagte: ›Ach, das ist eines der Lieder der Frau aus Kemay.‹ Er wanderte also nach Kemay weiter, dem kleinen Hafenort, in dem die Frau lebte, und fand ihr Haus unten am Hafen. Er klopfte mit seinem Magierstab an die Tür. Sie kam und öffnete ihm.
    Du erinnerst dich daran, als wir über Namen sprachen, daß Kinder Kind-Namen haben und jeder einen Gebrauchsnamen und vielleicht auch einen Spitznamen hat. Verschiedene Leute können dich verschieden nennen. Du bist meine Therru, aber vielleicht wirst du einen hardischen Gebrauchsnamen bekommen, wenn du älter wirst. Wenn du deine Weiblichkeit erreichst, wirst du, wenn alles richtig geschieht, deinen wirklichen Namen erhalten. Jemand, der die wahre Macht besitzt, ein großer Zauberer oder ein Magier, wird ihn dir geben, denn das ist seine Macht, er beherrscht diese Kunst. Und das ist der Name, den du vielleicht niemals einem anderen verraten wirst, weil sich dein eigenes Ich in deinem wahren Namen befindet. Er ist deine Stärke, deine Macht; aber für einen anderen bedeutet er Gefahr und Last und darf nur in äußerster Not und aus Vertrauen preisgegeben werden. Ein großer Magier allerdings, der alle Namen kennt, wird ihn vielleicht wissen, ohne daß du ihn ihm verrätst.
    Nun stand Ogion, der ein großer Magier ist, an der Tür des kleinen Hauses am Deich, und die alte Frau öffnete die Tür. Ogion trat zurück, hielt seinen Eichenstab in die Höhe, hob auch die Hand, als versuche er, sich vor der Hitze eines Feuers zu schützen, und in seiner Verblüffung und Angst sprach er ihren wahren Namen laut aus: ›Drache!‹
    Er erzählte mir, daß er in diesem ersten Augenblick keineswegs eine Frau in der Tür erblickte, sondern Lohe und Pracht des Feuers, das Glitzern von goldenen Schuppen und Klauen und die großen Augen eines Drachen. Man sagt, daß man einem Drachen nicht in die Augen sehen darf.
    Dann war es vorbei, und er erblickte keinen Drachen, sondern eine alte Frau, die ein wenig gebeugt in der Tür stand, eine große alte Fischersfrau mit großen Händen. Sie sah ihn genauso an wie er sie. Dann sagte sie: ›Kommt herein, Lord Ogion.‹
    Er trat ein. Sie tischte ihm Fischsuppe auf, sie aßen, und dann sprachen sie an ihrem Feuer miteinander. Er nahm

Weitere Kostenlose Bücher