Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
eines Adlers oder die eigene Stimme, die leise fragte: ›Wirst du kommen?‹
Der Mann nickte. »Er ist krank. Wirst du weibliche Lämmer verkaufen?«
»Vielleicht. Wenn du willst, sprich mit dem Hirten. Dort drüben am Zaun. Möchtest du zu Abend essen? Wenn du willst, kannst du über Nacht bleiben, aber ich werde unterwegs sein.«
»Heute abend?«
Diesmal lag in ihrem leicht verächtlichen Blick keine Belustigung. »Ich werde nicht trödeln.« Sie sprach eine Minute lang mit dem alten Hirten Reinbach, wandte sich dann ab und ging zu dem Haus hinauf, das neben dem Eichenhain an den Hang des Hügels gebaut war. Der Bote folgte ihr.
In der Küche mit dem Steinboden trug ein Kind, das er einmal anblickte und von dem er dann rasch wegsah, Milch, Brot, Käse und grüne Zwiebeln auf und ging dann wortlos fort. Es tauchte neben der Frau wieder auf, beide trugen Schnürschuhe und leichte Lederranzen auf dem Rücken. Der Bote folgte ihnen hinaus, und die Witwe versperrte die Tür des Hauses. Sie machten sich alle zusammen auf den Weg, er ging seinen Geschäften nach, denn die Botschaft von Ogion war eine reine Gefälligkeit gewesen, die er neben dem schwierigen Auftrag übernommen hatte, für den Fürsten von Re Albi einen Zuchtwidder zu kaufen; die Frau und das verbrannte Kind verabschiedeten sich dort von ihm, wo die Straße zum Dorf abbog. Sie gingen die Straße hinauf, die er heruntergekommen war, nach Norden und dann nach Westen in das Hügelland vor dem Berg Gont.
Sie gingen, bis die lange Sommerdämmerung allmählich dunkelte. Sie verließen die schmale Straße und schlugen ihr Lager in einem kleinen engen Tal an einem Bach auf, der rasch und still dahinfloß und zwischen den Dickichten aus Buschweiden den blassen Abendhimmel widerspiegelte. Goha bereitete aus trokkenem Gras und Weidenblättern ein Bett, das zwischen dem Gestrüpp versteckt war wie das Lager eines Hasen, und rollte das Kind darauf in eine Decke ein. »Jetzt bist du ein Kokon«, sagte sie. »Am Morgen wirst du ein Schmetterling sein und schlüpfen.« Sie zündete kein Feuer an, sondern legte sich im Mantel neben das Kind, sah zu, wie die Sterne nacheinander erschienen, und hörte zu, was der Bach leise erzählte, bis sie einschlief.
Als sie in der Kälte vor Sonnenaufgang erwachten, entzündete sie ein kleines Feuer und erhitzte Wasser in einer Pfanne, um Haferschleim für das Kind und sich zu kochen. Der zerstörte kleine Schmetterling schlüpfte zitternd aus dem Kokon, und Goha kühlte die Pfanne im taunassen Gras, damit das Kind sie halten und daraus trinken konnte. Als sie wieder aufbrachen, wurde es im Osten oberhalb der hohen dunklen Schulter des Berges hell.
Sie gingen den ganzen Tag mit der Geschwindigkeit eines Kindes, das rasch ermüdet. Das Herz der Frau drängte zur Eile, aber sie ging langsam. Sie war nicht fähig, das Kind über lange Strecken zu tragen, und um ihm die Wanderung zu erleichtern, erzählte sie ihm Geschichten.
»Wir besuchen einen Mann, einen alten Mann, der Ogion heißt«, erzählte sie ihm, während sie mühsam die schmale Straße entlangwanderten, die sich durch den Wald bergauf wand. »Er ist ein weiser Mann und ein Zauberer. Weißt du, was ein Zauberer ist, Therru?«
Falls das Kind einen Namen hatte, kannte es ihn nicht oder wollte ihn nicht nennen. Goha nannte es Therru.
Das Kind schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es auch nicht«, gab die Frau zu. »Aber ich weiß, was sie tun können. Als ich jung war – älter als du, aber jung –, war Ogion mein Vater, so wie ich jetzt deine Mutter bin. Er sorgte für mich und versuchte, mir beizubringen, was ich wissen mußte. Er blieb bei mir, wenn er lieber allein herumgewandert wäre. Er ging gern die Straßen entlang, so wie wir jetzt, auch durch Wälder und Wildnis. Er streifte überall auf dem Berg herum, betrachtete alles, lauschte. Er lauschte immer; deshalb nannte man ihn den Schweigsamen. Aber mit mir sprach er. Er erzählte mir Geschichten. Nicht nur die wichtigen Geschichten, die jeder lernt, von Helden, Königen und den Dingen, die sich vor langer Zeit in weiter Ferne zugetragen haben, sondern Dinge, die nur er kannte.« Sie ging ein Stück weiter, bevor sie fortfuhr. »Ich werde dir jetzt eine dieser Geschichten erzählen.
Zu den Fähigkeiten, die Zauberer besitzen, gehört es, sich in etwas anderes zu verwandeln – eine andere Gestalt anzunehmen. Sie nennen es Gestaltwechseln. Ein gewöhnlicher Zauberer kann erreichen, daß er wie jemand anderer oder
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