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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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gesprochen?«
    »Ich könnte etwas essen.«
    Sie stöberte in dem gut gefüllten Vorratsschrank herum. »Auf welchem Schiff bist du? Noch immer auf der Möwe ?«
    »Nein.« Eine Pause. »Mein Schiff hat sich aufgelöst.«
    Sie drehte sich entsetzt um. »Gestrandet?«
    »Nein.« Sein Lächeln war nicht fröhlich. »Die Mannschaft hat sich aufgelöst. Die Männer des Königs übernahmen das Schiff.«
    »Aber … es war doch nicht etwa ein Piratenschiff …«
    »Nein.«
    »Warum dann …?«
    »Sie sagten, der Kapitän führe Waren mit, die sie suchten«, antwortete er unwillig. Er war genauso mager wie früher, sah aber älter aus, war braungebrannt, hatte glattes Haar und ein langes schmales Gesicht wie Flint, aber noch schmaler und härter.
    »Wo ist Vater?« fragte er.
    Tenar blieb stehen.
    »Du hast nicht bei deiner Schwester hineingeschaut?«
    »Nein«, meinte er gleichgültig.
    »Flint starb vor drei Jahren. An einem Schlaganfall. Auf den Feldern – unterwegs von den Pferchen hierher, wo die Mutterschafe lammten. Reinbach hat ihn gefunden. Das war vor drei Jahren.«
    Stille trat ein. Er wußte nicht, was er sagen sollte, oder hatte nichts zu sagen.
    Sie stellte Essen vor ihn hin. Er aß so gierig, daß sie sofort mehr auftischte.
    »Wann hast du zum letztenmal gegessen?«
    Er hob die Schultern und aß.
    Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Der Sonnenschein des Spätfrühlings fiel zu dem niedrigen Fenster auf der anderen Seite herein, und der Kaminvorsetzer aus Messing glänzte.
    Endlich schob er den Teller weg.
    »Wer hat inzwischen den Hof geleitet?« fragte er.
    »Warum willst du das wissen, Sohn?« fragte sie ihn sanft, aber trocken.
    »Er gehört mir«, antwortete er in einem sehr ähnlichen Tonfall.
    Tenar stand nach einer Minute auf und räumte das Geschirr weg. »Das stimmt.«
    »Du kannst natürlich bleiben«, meinte er sehr verlegen, vielleicht wollte er einen Scherz machen; aber er war kein scherzhafter Mensch. »Ist der alte Reinbach noch in der Gegend?«
    »Alle sind noch da. Dazu ein Mann namens Falk und ein Kind, das ich aufziehe. Hier. Im Haus. Du mußt auf dem Dachboden schlafen. Ich stelle die Leiter auf.« Sie sah ihn an. »Bist du gekommen, um zu bleiben?«
    »Es könnte sein.«
    So hatte Flint zwanzig Jahre lang ihre Fragen beantwortet, ihr das Recht abgesprochen, Fragen zu stellen, indem er nie mit ja oder nein antwortete, sich eine Freiheit bewahrte, die auf ihrer Unwissenheit beruhte; eine armselige, enge Freiheit, dachte sie.
    »Armer Junge«, stellte sie fest, »deine Mannschaft hat sich aufgelöst, dein Vater ist tot, in deinem Haus leben Fremde, und das alles in einem Tag. Du wirst Zeit brauchen, um dich daran zu gewöhnen. Es tut mir leid, mein Sohn. Aber ich freue mich, daß du hier bist. Ich habe oft an dich gedacht – du auf dem Meer, im Sturm, im Winter.«
    Er schwieg. Er hatte nichts anzubieten und war nicht fähig, etwas anzunehmen. Er schob den Stuhl zurück und wollte aufstehen, als Therru hereinkam. Er hatte sich halb erhoben und starrte sie an. »Was ist ihr zugestoßen?« fragte er.
    »Sie wurde verbrannt. Das ist mein Sohn, von dem ich dir erzählt habe, Therru, der Seemann Funke. Therru ist deine Schwester, Funke.«
    »Schwester!«
    »Durch Adoption.«
    »Schwester!« wiederholte er, sah sich in der Küche um, als suche er einen Zeugen, und starrte seine Mutter an.
    Sie starrte zurück.
    Er ging hinaus und machte dabei einen großen Bogen um Therru, die sich nicht rührte. Er schlug die Tür hinter sich zu.
    Tenar wollte mit Therru sprechen und konnte es nicht.
    »Weine nicht«, sagte das Kind, das nicht weinte, kam zu ihr, berührte sie am Arm. »Hat er dich verletzt?«
    »Ach, Therru! Laß dich in die Arme nehmen!« Sie setzte sich an den Tisch und zog Therru auf den Schoß und in die Arme, obwohl das Mädchen dafür allmählich zu groß wurde und nie gelernt hatte, wie man es leichthin tut. Aber Tenar drückte sie an sich und weinte, und Therru neigte das narbenbedeckte Gesicht Tenars Gesicht entgegen, bis auch das ihre naß vor Tränen war.
    Ged und Funke kamen in der Dämmerung von den entgegengesetzten Enden der Farm nach Hause. Funke hatte offensichtlich mit Reinbach gesprochen und über die Situation nachgedacht, und Ged versuchte offensichtlich, ihn einzuschätzen. Beim Abendessen wurde sehr wenig gesprochen, und das vorsichtig. Funke beschwerte sich nicht darüber, daß er nicht sein Zimmer wiederbekam, sondern kletterte die Leiter zum Speicher

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