Jinx und der magische Urwald (German Edition)
Jinx
I m Urwald wurde man entweder schnell groß oder gar nicht. Mit seinen sechs Jahren hatte Jinx schon gelernt, leise und bedächtig zu leben und sich dort einen Platz zu suchen, wo andere ihn ließen, obwohl die Hütte, in der er mit seinen Stiefeltern wohnte, doch eigentlich ihm gehörte. Er hatte sie geerbt, nachdem sein Vater von Werwölfen getötet und seine Mutter von Elfen verschleppt worden war.
Doch wie das Schicksal es wollte, wurde die Hütte vom Funken eines vorüberfliegenden Feuervogels angezündet und war binnen weniger Minuten abgebrannt. Die Menschen auf der Lichtung bauten eine neue Hütte. Nun gehörte diese nicht Jinx, was seinen Stiefeltern, Bergthold und Cottawilda, wohl bewusst war. Zu allem Überfluss war die Ernte in diesem Herbst schlecht gewesen, und ein Hungerwinter stand bevor.
In einer solchen Lage bedachte man überzählige Kinder auf der Lichtung mit einem berechnenden Blick.
Und Jinx war eindeutig überzählig, besonders seit Bergthold und Cottawilda ein neues, eigenes Baby hatten, ein Mädchen. Jinx arbeitete, so hart er konnte, um das Vergehen, dass es ihn gab, wettzumachen, und er versuchte möglichst wenig zu essen. Abends aß er nur einen Happen von seinem Krötenbrei, ehe er den Rest dem Baby überließ. Trotzdem waren seine Stiefeltern sich bald einig, dass es zu anstrengend und kostspielig sei, Jinx großzuziehen.
Eines Nachmittags im Herbst sagte Bergthold zu Jinx, er solle seinen Mantel anziehen, und dann verließen sie gemeinsam die Lichtung, auf der sie lebten, und tauchten in den Urwald ein. Sie folgten dem Pfad, der sich um gewaltige Bäume mit hausbreiten Stämmen wand. Doch nach einer Weile verließ Bergthold den Pfad.
Jinx blieb stehen.
»Worauf wartest du?«, brüllte Bergthold. »Komm schon!«
»G-geh nie vom Wege ab«, sagte Jinx. Diese Regel lernte jedes Kind im Urwald, sobald es laufen konnte.
»Jetzt gehen wir aber vom Wege ab!« Bergthold packte Jinx am Mantelkragen, verpasste ihm links und rechts eine Ohrfeige und schleifte ihn mit sich.
Jinx versuchte sich aus dem Griff seines Stiefvaters zu befreien. Es war ein Fehler, den Pfad zu verlassen. Der Pfad und die Lichtungen des Urwalds mochten den Menschen gehören. Aber alles andere gehörte den Bäumen. Wer den Pfad verließ, war verdammt.
Wieder schlug Bergthold Jinx, schubste ihn fest und trieb ihn in den Wald.
Mit brennenden Ohren lief Jinx durch das finstere Zwielicht des Urwalds. Ab und an schubste Bergthold ihn nach rechts oder nach links, um einen großen, dunklen Baum herum, als wollte er Jinx absichtlich verwirren, damit dieser nicht zum Pfad zurückfand.
»Bleib hier stehen!«
Jinx gehorchte sofort, denn er wollte nicht noch mal geschlagen werden. Er fragte sich, ob Bergthold ihn umbringen wollte.
»Hier setzt du dich hin und bewegst dich bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht vom Fleck, sonst wirst du dir wünschen, du wärst nie geboren.«
Jinx wünschte sich jetzt schon, er wäre nie geboren. Aber er setzte sich auf die Stelle im Moos, die sein Stiefvater ihm gezeigt hatte. Durch den Boden konnte er das Missfallen des Urwalds spüren.
»Gut. Und nun leb wohl.« Bergthold wandte sich zum Gehen. Dann hielt er inne und schaute sich um. Er ging erst in die eine Richtung, blieb stehen, kam wieder zurück und ging dann in die andere Richtung. Dann kam er wieder zurück.
Er schaute Jinx unsicher an. »Äh, sag mal, weißt du zufällig, woher wir gekommen sind?«
»Nein«, sagte Jinx.
»Aha«, sagte Bergthold. Er nickte, als ob er über Verschiedenes nachdächte.
Er hat sich verirrt
, dachte Jinx.
Wir haben uns beide verirrt.
»Aber ich glaube, ich weiß, wo es zum Pfad geht«, sagte Jinx aufs Geratewohl.
»Ah! Na, was hängst du dann hier rum wie ein nasser Sack? Geh voran, Junge!«
Jinx rappelte sich auf und marschierte los. In Wirklichkeit hatte er keine Ahnung, wo es zum Pfad ging. Aber wenn er lief, mit Bergthold hinter sich, fühlte er sich sicherer, als wenn er unter den drohenden Schatten des Urwalds allein dasaß – und dabei wahrscheinlich von hungrigen Wesen beobachtet wurde, die in den Bäumen lauerten.
Gerade ging er um einen großen knorrigen Baumstamm herum, als er jemandem direkt in die Arme lief. Er schrie auf.
»Ruhig Blut, Junge, ich fress dich nicht«, sagte der Jemand.
Da das im Urwald keineswegs selbstverständlich war, beruhigte Jinx sich tatsächlich.
Der Jemand war ein großer, dünner Mann mit zwirbeligen Haaren, gelben Augen und Spitzbart. Er trug
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