Der erschoepfte Mensch
die Energieaufnahme behindert. Man muss sich öffnen, um aufnehmen zu können. Wenn man sich aber öffnet, können alte, unterdrückte oder verdrängte Seeleninhalte hoch. steigen; meist sind es schmerzliche, peinliche, beschämende. Dann würgt es in der Kehle, denn die Freisetzung dieser alten Kotzbrocken ist ja nicht so einfach – sie muss jahrelange Zensuren und Hemmschwellen überwinden.
Sich seelisch zu öffnen folgt dem gleichen Dehnungsmuster, das man nutzt (bzw. nutzen sollte), wenn man im Ballettunterricht Spagat trainiert. Ich nenne es daher auch den »seelischen Spagat«: Man muss in den Muskel hinein atmen, dann gelingt die Dehnung weitgehend ohne Muskelfasereinrisse und daher schmerzfrei. Auch das Herz ist ein Muskel, und wenn man in den hinein atmet, gelingt es, gegenzusteuern, wenn sich das Herz im Schock, in Angst oder Weh zusammenziehen will. Sich zusammenzunehmen führt zur Erstarrung. Es genügt, bei sich zu bleiben.
Wie bereits erwähnt, frage ich meine Klient/innen oft: »Zu wem wollen Sie halten? Zu sich oder zu den anderen?«, und versuche in der Folge einen Nachdenkprozess auszulösen, was wohl das Ärgste wäre, was eintreten könnte, wenn man sich nicht nach anderen richtet. Die Erfahrung hat mir immer wieder bewiesen, dass keine schrecklichen Phantasien vorliegen, sondern unspezifische Furchtgefühle. Ich schließe daraus, dass Angst vor Kritik oder Ausstoßung aus der Gemeinschaft von den Bezugspersonen der frühen Kindheit initiiert wurden und später als gewohnte Warnsignale bei aufkeimenden Selbstbehauptungsbedürfnissen wieder auftauchen.
Aber wie tut man das konkret: »bei sich bleiben«?, werde ich oft gefragt. Ich antworte dann (und mache es vor): mit einem tiefen Atemzug, Absinkenlassen des Atems ins Hara – in die Leibmitte des Sonnengeflechts – und der Schultern, in einer Aufrichtung der Wirbelsäule »ins rechte Lot« und der Autosuggestion gelassener Achtsamkeit auf das, was im Hier und Jetzt gerade geschieht. Daraus erwächst eine Form von Achtung im Doppelsinn des Wortes: einerseits ein Beachten und Akzeptieren dessen, was einem das Leben gerade als Herausforderung zur Weiterentwicklung anbietet, und andererseits Wertschätzung für sich selbst als jemanden, der oder die sich dieser Herausforderung gegenüber öffnet.
Ich habe mir diese Einstimmung ungeplant in einer schwierigen Lebenssituation erarbeitet. Damals – 1979 – habe ich den ersten Schritt gelernt, wie man die Wucht eines Ereignisses entschleunigt. Später folgte als zweiter Schritt zu lernen, »zu lieben, was ist« 227 , und wie man das konkret bewerkstelligt.
Heute sehe ich Heilung als Überwindung von Trennendem – in uns drinnen wie auch äußerlich untereinander.
Ich baue mir dazu in Gedanken eine lineare Distanz zwischen zwei Extrempositionen und stelle mir vor, wie sich die beiden Endpunkte langsam und vorsichtig annähern, statt einander schnell und feindlich zu bekämpfen. Zu diesen beiden Endpolen gehört auch der der Vergangenheit und der der Zukunft. Die Gegenwart liegt in der Mitte, und leben tun wir immer nur jetzt.
KRAFT DER GEGENWART
Die Formulierung »Hier und Jetzt« gehört zu den klassischen Hinweisformeln in der Gestaltpsychotherapie. Sie hat den Sinn, darauf hinzuweisen, dass wir immer nur im Augenblick leben; wenn wir in die Vergangenheit eintauchen oder in die Zukunft hineinphantasieren, sind wir nicht mehr bei uns, sondern bei jemandem, der wir einmal waren oder vielleicht künftig sein werden. Es fließt also gleichsam ein Teil unserer Energie von uns weg in Erinnerungsbilder oder Zukunftsvisionen und schwächt uns im gegenwärtigen Lebensbereich – ausgenommen geistige Bilder, die in uns den Zustand des Liebens hervorrufen. Denn wenn wir lieben – unser Herz etwas oder jemand Geliebtem öffnen –, erfahren wir einen Kraftzuwachs.
Lieben bedeutet mehr als etwas oder jemanden zu mögen, gegenüber Alternativen zu bevorzugen oder gar abhängig zu sein. Lieben heißt, sich unabhängig von möglicherweise folgenden Reaktionen, vor allem aber Bewertungen sich begeistern zu lassen: den Geist, den Spirit, des geliebten Bezugspunktes in sich aufzunehmen und zu genießen.
Seit den 1990er Jahren tauchen in den Medien immer häufiger Kolumnen mit Berichten über leiblich-sinnliche Genüsse auf; dabei geht es nicht nur um Rezepte für kulinarische Köstlichkeiten, sondern auch für sexuelle »Verkostungen«. Wen wundert, dass aus der Verwandlung der Person in ein Genussobjekt nur
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