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Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rotraud A. Perner
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und zu nutzen 222 , besteht nach der Definition von Cobaugh und Schwerdtfeger Work-Life-Kompetenz darin, Ganzheit dadurch herzustellen, dass man darauf achtet, sechs wesentliche Lebensbereiche nicht allein über den Beruf abzudecken. Beide haben Recht: denn das »innere Kraftzentrum« liegt auch in den sechs – nach meiner Definition sieben – Sektoren der, wie ich sie bezeichne, Selbstverwirklichung verborgen.
    Diese sechs Sektoren sind
    ~ Arbeit (und, aber nicht nur Beruf),
    ~ soziale Kontakte,
    ~ emotionale Bindungen,
    ~ intellektuelle Entwicklung,
    ~ körperliche Gesundheit und
    ~ Spiritualität. 223
    Ich selbst ordne noch einen siebenten Sektor dazu:
    ~ Kunst und Kultur.
    Wie die beiden anderen Autorinnen spickt auch dieses Autorinnenduo ihr Buch mit vielen Tests und Anleitungen; das mag für Menschen, die Anleitung durch Autoritäten suchen, hilfreich sein. Ich halte davon deswegen nicht so viel, weil dabei Energie auf die Lehrperson zufließt. Es sollte aber doch eigentlich umgekehrt sein – oder?
ENTSCHLEUNIGUNG
    Wenn man sich nun Zeit nimmt und die sechs bzw. sieben Lebensbereiche als mögliche Energiequellen untersucht, wird auffallen, dass viele Menschen ihr Lebenskonzept für umfassend halten, wenn sie im Beruf ausreichend soziale Kontakte erfahren und vielleicht zu ihren Arbeitskollegen emotionale Bindungen erleben. Betriebsinterne Fortbildungen oder spätabendliche Fachlektüre gelten dann als Bausteine intellektueller Entwicklung, und Projekte der Betrieblichen Gesundheitsförderung, gesundes Kantinenessen und gemeinsame Sportaktivitäten, Treppe statt Aufzug und Fahrrad oder Füße allein für die Arbeitswege mitgemeint, stehen für Pflege der körperlichen Gesundheit, vom Betriebsrat organisierte Theater- und Konzertbesuche für Kunst und Kultur. Nur mit der Spiritualität hapert es, die ist zum neuen Tabuthema (neben Fragen nach dem Einkommen) mutiert, seitdem Sexualität enttabuisiert und kommerzialisiert wurde.
    Work-Life-Balance besteht in dem Versuch, diese sechs bzw. sieben Bereiche komplex statt linear, also wie in einem Tortendiagramm, in ein flexibles Gleichgewicht zu bringen – so wie man auch auf einem Floß den ausgleichenden Belastungspunkt finden muss, damit nichts abrutschen und »den Bach runter gehen« kann.
    Wir sind traditionell gewohnt, in Dualitäten zu denken (wie der oben geäußerte Gedanke von zwei Richtungen, wie Energie zu- oder abfließen kann, soeben wieder aufzeigte). Wenn unsere Gegenwart beispielsweise als Spaßgesellschaft bezeichnet wird, wohnt diesem Wort verborgen ein Gegensatz von einer faden oder belastenden Pflichtgesellschaft und damit eine Bewertung von hier angenehm, dort unangenehm inne. Wer Späßen nichts abgewinnen mag, gilt dann als Spaßverderber/in. Die französische Psychoanalytikerin Corinne Maier unkt, die »Arbeit in einem Großbetrieb dient einzig und allein dazu, das Individuum zu fesseln, das doch noch anfangen könnte zu denken, ja womöglich die bestehende Ordnung anzufechten, wenn man es sich selbst und seiner freien Urteilskraft überließe«. 224 Sie weiß auch: Individualisten, die sich dem Gruppendruck widersetzen, lösen Misstrauen aus, denn »das ist mies, nicht buckeln zu wollen; es ist mies, fluchtartig den Arbeitsplatz zu verlassen, sobald man sein Arbeitspensum erfüllt hat; es ist mies, nicht mit den anderen zum Jahresende anzustoßen …« und so weiter und so fort, weil: »Wer sich so benimmt, gilt unter seinen Kollegen als Bürokaktus, denn Geselligkeit in Form von Umtrünken, eingespielten Witzeleien, Duzen und scheinheiligen Küsschen (bei all dem gilt es mitzuspielen, sonst droht der Ausschluss) ist obligatorisch. Vielleicht aber haben unsere Stachelgewächse nur genau begriffen, wo die unüberschreitbare Grenze zwischen Arbeit und Privatleben liegt.« 225 Und was Work-Life-Balance bedeutet!
    Die permanente Aufforderung nach Action, Spaß, Erlebnis stimuliert zu einem immer schnelleren Lebensrhythmus. Ich sehe darin wieder einen Versuch, latenter Depressivität – dem »Loch in der Seele« – zu entkommen. Adolf Holl erinnert: »Die Zeit ist der Feind der Liebe … Die Zeit ist auch ein Feind Gottes.« 226 Er meint die Vergänglichkeit. Auch die Flucht vor dem Loch in der Seele ist eine Flucht vor dem Vergehen – nämlich zu sterben, ohne »sein Leben gelebt«, das heißt: seine Bestimmung gefunden zu haben.
    Man muss sich öffnen,
um aufnehmen zu können.
    Geschwindigkeit führt genau zu der Anspannung und Verengung,

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