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Der erschoepfte Mensch

Der erschoepfte Mensch

Titel: Der erschoepfte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rotraud A. Perner
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bewarben einstmals Patienten ein Theaterstück mit dem Titel »Strategien gegen die Trauer: das Reden – das Saufen«. Dieses verschließt, macht »zu« und vergiftet, körperlich wie seelisch und geistig; jenes öffnet, drückt »aus« und entgiftet. Man braucht dazu Worte, und diese bestehen aus dem Geist im gelenkten Atem. Aber um statt unartikulierter Laute sich selbst erkennbar machen zu können und das auch zu wagen, braucht man Vorbilder und eine hinreichend schützende Umgebung. Beides ist Mangelware.
    Mit dem Satz: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« endet der »Tractatus logico-philosophicus« des österreichischen Volksschullehrers und späteren Lehrstuhlinhabers für Philosophie an der Universität Cambridge (in Österreich hätte er solch eine Anerkennung seines Denkens wohl nie erlangt!), Ludwig Wittgenstein. 26 Sprechen kann wohlgesetzte Worte bedeuten oder aber unbedachten Gefühlsausdruck, listiges Verbergen von Gedanken oder gequältes Herumreden im Ringen um Selbstausdruck.
ANFANGS- UND ENDWORTE
    Um sprechen zu können, braucht man zuerst eine – bewusste oder unbewusste – Idee davon, was man zur Sprache bringen will. Im Gefolge der bereits zitierten vierfachen Möglichkeit von Bewusstwerdung, wie sie C. G. Jung beschrieben hat, kann solch ein Urbild körperlich oder intuitiv, seelisch oder kognitiv wahrnehmbar werden – was aber noch nicht bedeutet, dass das jeweilige Phänomen und die benennende Wortwahl zusammenpassen.
    So fällt mir immer wieder auf, dass vieles, worüber man dringend sprechen sollte, keine präzisierende Bezeichnung besitzt – wie beispielsweise die Stimmungslage der Märchenfigur Rumpelstilzchen, wenn es sich zuletzt in zwei Teile zerreißt. Im Märchen der Brüder Grimm stößt das Männlein »mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, dass es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riss sich selbst mitten entzwei«. 27 Diese Interpretation der selbstschädigenden Emotion als Zorn kann als Projektion aus der Sicht des Betrachters entschlüsselt werden. Wenn man hingegen empathisch nachspürt, wie sich das Männchen wohl gefühlt haben mag, nachdem es seinen Teil des »Arbeitsvertrags« – nämlich Stroh zu Gold zu spinnen – erfüllt hatte und nun um seinen ausgehandelten Lohn geprellt wurde, werden Anteile von Enttäuschung, Beschämung, Hilflosigkeit und Verzweiflung neben dem Wutausdruck wahrnehmbar. Wut unterscheidet sich im Gegensatz zum zielgerichteten Zorn dadurch, dass sie ungerichtet irgendwas oder irgendwen, daher auch sich selbst, treffen kann. Beide Gefühle eint aber, dass sie unerträgliche Spannung abführen; das kennt jeder Mensch, der schon einmal gefühlt und gesagt hat: »Mich zerreißt’s!«
    Im alltäglichen Sprachgebrauch wird vielfach nur ein Endwort gesprochen und damit die Aufmerksamkeit auf einen subjektiv-punktuellen Wahrnehmungsbereich gelenkt. Man vermeidet damit die zeitaufwändige Nachspürarbeit, wie viele und welche Emotionen dem benannten Gefühl vorausgegangen sind. Dann würde man allerdings auch erkennen können, dass wir die Namen für unser subjektives Erleben unkritisch von anderen übernommen haben, meist sogar zu deren Vorteil. Denken wir nur an die Zuschreibung »frech« im Verbot des Widerspruchs, womöglich verbunden mit der Ausschlussandrohung: »Dann hab ich dich gar nicht mehr lieb!« Nachgefühlt und nachgedacht müsste das Anfangswort eigentlich »selbstbehauptend« lauten und dem unwillkommenen Verhalten mit einem Satz wie »Ich verstehe, dass dir das nicht recht ist, daher will ich dir erklären, weswegen ich darauf bestehen werde …« mehr Information beigegeben werden.
    Nur durch Zuschauen und
oberflächliches Zuhören erwirbt
man keine Sprachkompetenz,
und Denkkompetenz auch nicht.
    Leider wird Kindern und Jugendlichen viel zu wenig Anregung für präzise Sprachgestaltung und ihr vorgelagert exaktes Denken – denn bevor man spricht, sollte man doch seine Gedanken gesammelt haben – angeboten. Die Ursachen dafür sehe ich einerseits in der zunehmenden Beschleunigung aller Verrichtungen, damit vor allem auch der Kommunikation, sowohl in beruflichen wie sogar in privaten Beziehungen, andererseits im Verlust von interpersoneller Kommunikation durch einseitigen Konsum von audiovisuellen Medien. Nur durch Zuschauen und oberflächliches Zuhören erwirbt man keine Sprachkompetenz, und Denkkompetenz auch nicht. Man erwirbt nur

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