Der erschoepfte Mensch
allem im eigenen Karriereweg, die erfolgreicher sein und diesen daher behindern könnte. Diese Angst vor Konkurrenz wird nicht nur von elterlichen Autoritäten geschürt, sondern auch durch mediale Geschwindigkeitssuggestionen, wenn etwa Reporter bei der Berichterstattung von Schi- oder Autorennen hektisch hecheln und keuchen, weil sie meinen, ihr vermutlich vor den TV-Geräten lümmelndes Publikum auf diese Weise dynamisieren zu sollen; einen weiteren Anteil an der Temposteigerung bewirken die immer schneller funktionierenden Telekommunikationsgeräte.
Kaum merklich befinden sich immer mehr Menschen in einem Wettrennen nicht nur mit möglichen Wettbewerbern, sondern auch mit der Zeit – nur im Gegensatz zu den Profi-Rennläufern nicht nur kurzfristig und ohne ausreichende Regenerationsphasen, sondern auch ohne Masseure, Mentalcoaches, unterstützende Boxen-Crew und jubelnde Zuseherschaft. Und ohne fulminante Preisgelder.
2 . Umgang mit Energie
Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst,
und kann somit ein Dreifaches sein:
verzweifelt sich nicht bewusst sein, ein Selbst zu haben
(uneigentliche Verzweiflung);
verzweifelt nicht man selbst sein wollen;
verzweifelt man selbst sein wollen.
S. K IERKEGAARD 36
Erschöpft ist man, wenn man merkt, dass die eigene Vitalkraft immer weniger und weniger wird und sich der »flatline«, bekannt als Nulllinie im EKG, bzw. dem in einer immer dunkler werdenden Abwärtsspirale gedachten Nullpunkt annähert. Depressive Menschen sprechen dann auch von »schwarzen Löchern«, in die sie sich hineingesaugt fühlen, und manche Tiefenpsychologen meinen darin eine Wiederholung der Angst des ungeborenen Kindes vor dem Druck der Presswehen und der Enge des Geburtskanals zu erkennen.
Hilflos einer äußeren Kraft ausgesetzt zu sein, löst heftige Gefühle aus. Angst, manchmal auch Angstlust. Ist man mit solchen Erlebnissen nicht vertraut, hat also derartige »äußere« Ereignisse noch nicht in »innere« Erfahrung und in eine dazu passende Coping-Strategie verarbeitet, setzt man alles daran, diesem Hinübergleiten in die vermutete andere Dimension des »Schlafens – vielleicht auch Träumens« zu entgehen.
VERKÖRPERUNGEN
Körperlich spürt man in dieser Abwärtswelle zuerst noch Verspannungen, dann nur mehr Schwere, nämlich Verlust der Muskelspannung; man meint, niederzusinken, und wird oft auch von Schwindelgefühlen ergriffen. Der Volksmund sagt dann, »den hat es niedergeprackt« oder »der ist eingegangen«, und meist wird bei solchen Aussagen Geringschätzung mittransportiert. Genau das nimmt noch weitere Energie, wird oft als Herausforderung angenommen, sich noch mehr zu bemühen, wieder Wertschätzung zu erleben – so wie man das im Schultraining gelernt hat –, aber diese Mühsal bedeutet nur weiteren Energieverlust und stärkt damit bloß die überheblichen Personen.
In der Schule lernt man, dass Energie durch Verbrennung geschaffen wird, man also dem Körper Nahrung zuführen muss, bevorzugt alles, was den Zuckerspiegel hebt und hält. Traubenzucker oder Red Bull?, heißt dann oft die Frage, oder anders gestellt: Will man altmodisch erscheinen oder urcool wie die Typen auf den Plakaten oder in der TV-Werbung? Dass Schokolade leicht antidepressive Wirkung besitzt, verführt zu dem Irrglauben, sie mache »mobil bei Arbeit, Sport und Spiel«, dabei macht die von ihr hervorgerufene Insulinausschüttung meist nur müde – wohlig müde gleich einem gestillten Säugling an der Mutterbrust. Die Wirkung zielt auf die hungrige Seele, nicht auf den erschöpften Körper.
Wer immer den Zustand der Unterzuckerung – den »heißen Hunger« – kennt, weiß: Entweder man hat Stresssituationen nicht wahrgenommen oder in ihren Wirkungen unterschätzt – eine verbale Kampfsituation etwa – oder man ist mit sich selbst unachtsam, das heißt im Klartext: lieblos umgegangen. Hat beispielsweise physisch gehungert, bis der Zuckerspiegel unter das lebenserhaltende Niveau abgesunken ist, hat das Warnsignal Übelkeit übertaucht und gemeint, jetzt wäre der sogenannte innere Schweinehund besiegt, der einen mit Fressphantasien vom Arbeiten abhalten wollte.
Der amerikanische Psychologe und Hypnotherapeut Ernest L. Rossi warnt vor dem Ignorieren nicht nur der wohlbekannten zirkadianen Rhythmen, die sich über ungefähr 24 Stunden erstrecken, sondern vor allem auch der üblicherweise verborgenen oder sogar abgestrittenen ultradianen, d.h. innerhalb eines Tagesablaufs auftretenden Zyklen,
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