Der erschoepfte Mensch
Endworte.
Das Endwort verhindert Erforschung, Klärung und Erklärung, vielmehr setzt es fast dogmatisch fest, als was etwas zu verstehen ist. Ein Beispiel: »Pippas Po ist doch nicht perfekt.« So lautete die Überschrift über dem Foto, auf dem ich mit bestem Willen nicht die zitierten »bösen Dellen« erkennen konnte. Wer die bewertende Jury ist, bleibt geheim. Aber es wird suggeriert, Pippa, die Schwester der jungvermählten Ehefrau des ältesten Sohnes des britischen Thronfolgers, wäre »schuldig«, etwas unterlassen zu haben. Endworte entstammen dem mehr oder weniger beschränkten Wortschatz der benennenden, »urteilenden« Personen – andere Menschen könnten andere Wörterbücher heranziehen oder gar eigene Wortschöpfungen wagen, wenn sie sich nur trauen, das Eigene zu verteidigen, was ich sehr hilfreich finde, denn oft genug angewendet, bereichern Neologismen die Allgemeinheit.
Sprachlosigkeit, Sprachverwirrung und Sprachmüll sind Begleiterscheinungen einer Internet- und SMS-Generation, die sich in rasantem Tempo mit Kürzeln und Piktogrammen verständigt und damit einerseits Nachfühlen und Nachdenken verlernt, andererseits zunehmend die Fäuste statt den Mund sprechen lässt – es sei denn, man hat ausreichend Gelegenheit zum Gegensteuern durch gewaltverzichtende Face-to-Face-Kommunikation mit den Menschen, mit denen man Energie austauschen mag. Die Eltern sind dies selten, die sind eher Energieräuber.
NEOLOGISMUS BURN-OUT
Der Neologismus Burn-out hat sich als Allerweltsdiagnose eingebürgert, vor allem als Selbstschutz, wenn man sich die Differenzialdiagnosen depressiver Stimmungsveränderungen und die leider noch immer damit verbundenen Stigmatisierungen ersparen will. Denken wir nur an den Satz »Am Abend wird der Faule fleißig«: Jede Person, die schon einmal an einer depressiven Verstimmung gelitten hat, weiß, dass diese morgens am schwersten erträglich ist, sich hingegen zu Abend oft graduell verbessert. Mit Faulheit hat das wenig zu tun, sondern vor allem mit dem Gefühl der Erschöpfung – wobei das Wort Gefühl hier zwar ein Endwort in meinem Sinn ist, tatsächlich aber einen Verlauf beschreibt, der grundsätzlich ins Positive beeinflussbar und veränderbar wäre, leider aber im Gegenteil eben durch derartige Abwertungen verschlechtert wird.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO prognostiziert für das dritte Jahrtausend, dass die häufigsten Gesundheitsstörungen neben Herz-Kreislauf-Schäden depressive Erkrankungen sein werden. Ich sehe zwischen beiden einen unübersehbaren Zusammenhang: Wie schon die Worte »warmherzig« und »offenherzig« einen Zustand des vertrauensvollen Zugangs zu anderen Menschen symbolisieren, hingegen Bezeichnungen wie »kaltes« oder »verhärtetes« Herz auf Vermeidung von Nähe, Zurückweisung von emotionaler Wärme, Geiz und Neid hinweisen, zeigt sich dahinter eine jeweils andere grundsätzliche Einstellung gegenüber der erlebten Welt. Diese basiert immer auf den Lernprozessen der Lebensgeschichte – wie man geliebt oder abgelehnt wurde, schon von Anfang an ein Reservoir von Herzensenergie anlegen konnte oder im Gegenteil die eigene Energie ausgebeutet, gestohlen, zerstört oder auch »nur« missachtet wurde.
Die unterschiedlichen Erscheinungsformen von Depressionen können grob als Energiemangel bzw. Energieverlust bezeichnet werden.
Der Soziologe Alain Ehrenberg zeigt in einer historischen Analyse, wie jung der Begriff Depression eigentlich ist: wie er nämlich in den 1950er Jahren die zuvor dominierende Diagnose »Asthenie« – Kraftlosigkeit – ablöste und wie das mit der »Erfindung« und Verfügbarkeit passender chemischer Behandlungsmethoden anstelle der vorher bevorzugten Elektroschocks zusammenhing. Er listet aber auch penibel auf, wie sehr über mögliche Unterschiede zwecks verbesserter Diagnostik, aber auch Ätiologie – Ursachenfeststellung – gerungen wurde. 28
Die unterschiedlichen
Erscheinungsformen von
Depressionen können grob
als Energiemangel bzw.
Energieverlust bezeichnet werden.
Diagnosen sind eben durchaus hinterfragbar. In der personzentrierten Gesprächspsychotherapie nach Carl R. Rogers werden sie überhaupt vermieden: Sie helfen dem konkret leidenden Menschen nicht, sich und seine Art der Lebensbewältigung zu verstehen, geschweige denn zu verbessern.
James Hillman, Jungianischer Psychoanalytiker und langjähriger Studiendirektor des C. G. Jung Instituts in Zürich, nennt die psychologische Diagnose sogar eine
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