Der erste Sommer
1
Nichts war mehr an seinem Platz. In keinem Film, den er bislang gesehen hatte, ruckelten und hüpften die Bilder so verrückt wie in diesem. Nur die Sonne und der strahlend blaue Himmel blieben, wo sie hingehörten. Ansonsten zitterte mal der dicht belaubte Ast eines Baumes ins Bild, mal die Gabel eines Telegraphenmastes oder eine kaputte Straßenlaterne und immer wieder, in Großaufnahme, die Ähre eines Grashalms.
Unversehens blieb der Film hängen. Martin blinzelte und richtete sich auf. Der Fahrer des Lastwagens, der seit dem letzten Dorf hinter dem Konvoi der amerikanischen Militärfahrzeuge zurückgefallen war, hatte scharf gebremst. Kaum stand der Wagen, brüllte er aus Leibeskräften. Anscheinend blockierte jemand die Fahrbahn. Alles Schreien half nichts. Mit den linken Rädern fuhr der Laster in den Straßengraben, um das Hindernis heftig schaukelnd zu überholen. Martin sah von der Ladefläche auf die beiden Männer in zerlumpten Wehrmachtuniformen, die auch kein zeternder amerikanischer Sergeant mehr von ihrem Weg in die Heimat abbringen konnte. Zwei Monate nach Kriegsende zogen immer noch versprengte Soldaten von Italien über die Alpen in die Ruinen des deutschen Reiches. Die beiden gingen im Abstand von anderthalb Metern nebeneinander her. Sie bewegten sich nicht wie Menschen, sondern erinnerten ihn an Automaten.Der Kleinere trug um den Kopf einen fleckigen Verband. Der linke Ärmel seiner Jacke war auf Höhe des Ellbogens abgerissen und mit einer Schnur zusammengebunden. Neugierig blickte er zu Martin hoch.
»Wohin?«, rief dieser dem Verkrüppelten zu.
Die Antwort musste er ihm von den Lippen ablesen, denn im selben Moment legte der Fahrer krachend einen höheren Gang ein und drückte das Gaspedal durch.
»Nach München!«
Als bestünde zwischen sich und dem Lastwagen eine Verbindung, beschleunigte der Soldat seine Schritte. Vergeblich, das unsichtbare Band zwischen ihnen riss nach wenigen Metern. Sein Kamerad, körperlich allem Anschein nach unversehrt, der auf Martins Frage nicht einmal reagiert hatte, strauchelte und fiel der Länge nach hin. Regungslos blieb er mit dem Gesicht auf dem Schotter liegen. Der Einarmige lief indessen mechanisch weiter.
Schnell wurde er kleiner und kleiner, bis Martin ihn aus dem Blick verlor und sich auf die weichen Säcke zurücksinken ließ. Er schob sich erneut den Grashalm mit der schwankenden Ähre in den Mund. Eine Falte bildete sich zwischen seinen schwarzen Augenbrauen. Vor langer Zeit hatte auch er jemanden liegen lassen und war alleine weitergezogen. So hatten die Märchen seiner Kindheit begonnen, mit Helden auf großer Fahrt – aber in seinem fehlte seither die Prinzessin. Mit einer unwirschen Handbewegung wischte er die Erinnerung beiseite. Er wollte nicht daran denken, dafür war der Sommer zu schön. Die Augen fielen ihm zu.
Eine halbe Stunde später hielt der Lastwagen abermals, diesmal weniger unvermittelt, so dass es einige Sekunden dauerte, bis Martin sich schläfrig aufrichtete. Verdutzt sah er sich um. Links und rechts der Straße nur freies Feld. Mit dem abgebrannten Zigarettenstummel zwischen den Zähnen bedeuteteder Fahrer ihm mit einem Zischen auszusteigen. Dabei hatte er ihm doch versprochen – nun, dann würde es eben etwas länger dauern, bis Martin sein Ziel erreichte. Niemand drängte ihn. Zumal er nicht einmal sicher sein konnte, ob diejenigen, die er in München suchte, noch am Leben waren. Lebten sie, hätte er ein Problem, und wären sie tot, hätte er ebenfalls eines, wenn auch ein anderes. Der Zustand der Ungewissheit war eigentlich der erträglichste.
Mühsam rappelte er sich hoch. Seinen Rucksack warf er ins hohe Gras unterhalb der Böschung, griff nach der Jacke sowie dem dunkelbraunen Filzhut und sprang mit einer halben Drehung hinunter. Salutierend blieb er am Straßenrand stehen, bis der Motor wieder brummte. Der Fahrer wandte sich nicht einmal um, warf nur einen abschätzigen Blick in den Rückspiegel und spuckte anfahrend den Zigarettenstummel aus dem offenen Fenster.
Martin sah dem Lastwagen nach, der noch zweihundert Meter die Landstraße entlang einer weiten Kurve folgte und darauf nach links in einen Feldweg bog. Von einem Moment auf den anderen fühlte er sich wie in einem schlechten Film. Was hatte er hier verloren? Er kannte Bayern nicht und wollte es auch nicht kennen lernen. Nichts passte für ihn zusammen, seitdem er hier war, geschweige denn das, was er auf dem Leib trug. Seine Kleidung hatte er
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