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Der erste Sommer

Der erste Sommer

Titel: Der erste Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maximilian Dorner
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Ehrfurchtgebietende verloren. Martin lachte befreit auf. Fehlte nur noch die Heilige mit ihm unter einer Decke. Aber die war wohl längst davongeschwebt – wie seine Mutter.
    Dafür hatte ihm jemand seinen Rucksack unter dem Kopf weggezogen. Offen lag er am Boden. Die ansehnliche Rolle Dollarnoten trug er Gott sei Dank in einen Stofffetzen gewickelt und mit einer Sicherheitsnadel festgesteckt in der Unterhose. Alles war an seinem Platz, wie er tastend feststellte. Sei’s drum. Gähnend erhob er sich und sah sich nach der Wasserflasche um. Vergeblich. Was nutzte ihm sein abgeschossener Stern der letzten Nacht, wenn er Durst hatte?
    » Nothing but lies «, beantwortete er die Frage laut, schnallte sich seinen Rucksack um und band die störrische Jacke um die Hüfte. Die Vögel über ihm pfiffen aufgebracht, von Beifall keine Spur mehr. Welchen Weg sollte er einschlagen? Zurück auf die Straße? Wer weiß, wo die hinführte. In die Berge wollte er auf keinen Fall und zu dem Bauernhof mit der verrückten Alten und der Geisterstimme erst recht nicht. Hinunter zum See? Soweit er es überblickte, gab es am Ufer keinen Weg, und schwimmen konnte er auch nicht. Blieb der schmale Pfad, der parallel zum See auf der Anhöhe und weg von den Bergen führte. Er marschierte los.
    Wenig später kam er an einem Wohnhaus vorbei. Hier gab es wenigstens einen Brunnen. Im dazugehörigen Garten bearbeiteten zwei Vogelscheuchen in dunklen Kittelschürzen mit Hacken den Boden. Sie blickten ihn finster an. Er winkte ihnen zu, doch sie drehten sich weg. Langsam ging Martin auf die Nerven, dass keine Frau mit ihm zu tun haben wollte.Aber wozu sollte er sich mit ihnen aufhalten, wenn ihnen nichts Besseres einfiel, als ihn mürrisch anzublicken oder ihn erschießen zu wollen? Besser, er hielt sich an das Wasser des Baches, dessen Plätschern in einiger Entfernung zu hören war.
    Nach wenigen Kilometern erreichte er eine Straße, die auf eine leicht erhöht stehende Kirche zulief. Vor dem mit einer mannshohen Mauer umschlossenen Friedhof stand eine Alte, die in einem morschen Leiterwagen kleine Brotlaibe anbot. Auch sie ganz in Schwarz gekleidet. Der Krieg hatte die Frauen um alle Farben gebracht. Mit schadhaften Zähnen lächelte sie ihn an und begann, ohne Pause auf ihn einzureden. Wenigstens eine, die mit ihm sprach, auch wenn sie ihm nur etwas andrehen wollte.
    Wortlos deutete er auf eines der Brote und fuhr sich in die Unterhose. Augenblicklich verstummte die Greisin, bis die Hand mit der Dollarnote wieder zum Vorschein kam. Mit zwei Fingern griff sie nach dem ihr hingehaltenen Schein und hielt ihn mit ausgestreckten Armen misstrauisch vor sich. Martin nahm ihr den Schein aus der Hand und las mit getragener Stimme vor:
    » The United States of America. In God we trust. One Dollar .« Die Vereinigten Staaten waren weit weg, aber für einen Dollar konnte man im Juli 1945 selbst in Bayern einiges bekommen. Das war bis zu der Alten gedrungen. Urplötzlich hellte sich ihre Miene auf.
    »Amerika!«, rief sie, und noch einmal, mit krächzender Stimme: »Amerika!« Sie bekreuzigte sich und murmelte, die Worte kaum artikulierend: »O Jesses Maria!« – Mit ein bisschen guten Willen klang es wie » God bless America!«
    » He should so «, bestätigte Martin lachend und gab ihr den Schein zurück. Man behandelte ihn in Bayern respektvoller, wenn er Amerikanisch sprach. Diese Erfahrung machte ernicht zum ersten Mal. Er nahm sich einen mit Mehl bestäubten Brotlaib, brach ein Stück davon ab, biss hinein und musste husten. Schnell stopfte die Alte den Dollar in ihre Schürze. Ihre gierigen Augen belustigten ihn. Abermals griff er in seine Unterhose und wühlte länger als nötig darin herum. Ihr Blick bohrte sich voller Erwartung in seinen Unterleib. Schließlich zog er noch einen Geldschein hervor und drückte ihn ihr in die Hand. Geld auszugeben fiel ihm nicht schwer, er hatte es früh im Leben gelernt … und in diesem Fall war es das von Sergeant Bill, der im grenzenlosen Mitleid mit vom Krieg gebeutelten Bäuerinnen Fahrradschläuche abzweigte.
    » In nobody you should trust «, murmelte Martin, um dann laut hinzuzufügen: » Indeed, God bless America and all fucking Bavarian virgins! «
    Die alte Frau nickte dankbar.
    Nicht weit von ihnen ertönte das durchdringende Pfeifen einer Dampflok. Da er keine rechte Lust hatte, mit der Alten weiter über bayerische Jungfrauen zu plaudern, verabschiedete er sich mit einer angedeuteten Verbeugung und

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