Der erste Sommer
bedeutet, dass sie ihre Morphiumspritze erst bekommen wird, wenn sie das Programm inklusive einer Zugabe absolviert hat.
Das Publikum, das mehrheitlich um ihr Geschick weiß, dankt ihren Entschluss durchzuhalten mit anhaltendem Applaus, steht am Ende des Auftritts sogar geschlossen auf und erklatscht eine zweite Zugabe. Unter den Zuschauern sitzen mit versteinerter Miene auch zwei Wehrmachtsoldaten auf dem Weg nach München. Ein schwarzer Offizier hat sie mit seinem Jeep und einem ortskundigen, gerade einmal achtzehnjährigen Fräulein von der Straße aus Weilheim aufgelesen und mitgenommen. Nur der eine applaudiert pflichtschuldig,dem anderen fehlt dazu ein Arm. Dafür glänzen seine Augen feucht. Besonders euphorisch klatscht ein kleiner stämmiger Mann mit geröteten Wangen, der ganz nah an der Bühne sitzt.
Der außerplanmäßige Medizinprofessor Dr. Claus Klammberg hat Tosca schon oft bejubelt, in Berlin und nun eben in München, seiner Heimatstadt. Die Jahre, in denen sie nicht aufgetreten war, hat er sich in seinem Institut in Ostpreußen nach ihrer Stimme gesehnt und über Möglichkeiten hormoneller Sterilität gebrütet. Beides ohne zu konkreten Ergebnissen zu kommen. Diese Halbfrau war seine große Liebe, in ihrem verwüsteten Körper vereinigte sich alles, wonach er sich sehnte: Krieg und Kunst und Begehren.
Seine Ehefrau und die beiden Kinder hat er seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, sie waren ihm seit jeher lästig. Er hat sie in der Ferne keine Sekunde vermisst. Die Familie ist ihm gleichgültiger als jede geheilte Patientin. Rückblickend versteht er nicht, warum er das blutjunge Ding vor zwölf Jahren überhaupt geheiratet hat, mitsamt ihrer unehelichen Tochter. Ein Akt der Barmherzigkeit. Nein, vielmehr fühlte er sich überrumpelt. Heidemarie Irmler hat sich ihm an den Hals geworfen. Seine Schwäche für hilflose Frauen schamlos ausgenutzt, nachdem der leibliche Vater des Säuglings, ein kaum volljähriger Sohn eines Großindustriellen, nach Amerika abgehauen war. Katharina, so der einfallslose Name der kleinen Göre, hat ihn nie akzeptiert. Seinen Sohn hingegen vermisst Dr. Klammberg hin und wieder; er ist Fleisch von seinem Fleische. Sie sind verschollen oder tot oder verstecken sich vor ihm, er kann sich damit nicht auch noch belasten. Er muss sehen, wie er nach dem Zusammenbruch wieder den Anschluss findet an die medizinische Forschungsgemeinschaft. Und hat endlich freie Bahn, seiner Lebenspassion zu folgen: Tosca.
Sie zwinkert ihm zu, worauf er sich im Sitzen verbeugt. Endlich hat sie ihn bemerkt! Er beginnt zu schwitzen. All die Jahre hat er nicht gewagt, sie anzusprechen. Heute würde er ihr seine Leidenschaft offenbaren. Genüsslich brummend rückt er die Krawatte zurecht.
»Danke, danke«, beruhigt Tosca das Publikum und nötigt es mit einer ausladenden Handbewegung, sich wieder zu setzen, »ich widme das letzte Chanson allen, die jetzt da draußen liegen, unter Trümmern, in den Flüssen, auf dem Meeresgrund, in Stacheldrahtzäunen hängen, in Schützengräben, in Massengräbern verfaulen, und allen, die unbemerkt weggegangen sind. Weil sie so waren oder anders. Weil sie nicht nur eine Farbe im Herzen trugen. Meine Damen, meine Herren, mein geliebtes Publikum, ich widme dieses Lied allen, die wir geliebt haben.«
52
Mit einem dumpfen Knall sprang die Haustür der Nymphenburger Villa auf. Aufgeregte Stimmen drangen aus dem Treppenhaus bis in das Schlafzimmer im ersten Stock.
Es war soweit. Ewald setzte sich in aller Ruhe auf und schlich mit der Handgranate auf Zehenspitzen zum Fenster. Niemand durfte ihm Katharina wegnehmen. Er würde sie bis zu seinem Lebensende verteidigen. Sie sollten nur kommen, dann könnten sie etwas erleben. Er war inzwischen sechs Jahre alt geworden, auch wenn im September keiner daran gedacht hatte, ihm zum Geburtstag zu gratulieren.
Durch die Schlitze in den Holzjalousien erkannte er, dass der Garten voller Männer in Uniformen war, die geschäftig hin und her liefen. Er stopfte das Hemd in die Hose, bereitzum letzten Kampf. Jemand kam die Treppe hoch, rüttelte an der verschlossenen Schlafzimmertür.
Ein letzter Versuch. Ewald ging zum Bett und zog an Katharinas Haaren. Fester. Noch fester. Einen Augenblick schien es, als ob sie lächelte. – Niemand lächelt, wenn man ihn an den Haaren zieht. Vor allem nicht seine Schwester. Langsam, ganz sacht, bettete er ihren Kopf wieder auf das Kissen.
»Aufmachen!«, befahl eine Männerstimme.
Er
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