Der Falke des Pharao
Der Übeltäter konnte in der Dunkelheit nicht sämtliche Spuren verwischen. Ich glaube, Hormin wurde hier getötet und auf den nächsten Tisch gelegt, der genügend Natron enthielt, um ihn zu bedecken.«
»Sehr gut. Sollen wir Hormin jetzt aus seiner Behausung herausholen?«
Meren stand am Kopf des Natrontisches, während Kysen den Abtransport des Körpers überwachte. Hormin wurde auf eine Tragbare gehoben, und zwei Gehilfen begannen, Salzkristalle von dem Leichnam zu bürsten. Kysen holte das Messer heraus, während Raneb ein Gebet sprach. Meren hielt den Priester davon ab, die Klinge wegzutragen.
»Priester, Ihr könnt den Körper haben, nachdem mein Arzt ihn untersucht hat, aber ich werde seine privaten Besitztümer und dieses Messer an mich nehmen.«
»Aber es muß gereinigt werden«, sagte Raneb.
»Nachdem ich denjenigen gefunden habe, der diesen Mann getötet hat.«
Der Priester verbeugte sich, und Meren wandte sich wieder dem Natrontisch zu. Die beiden Männer schaufelten das Natron von den dunkel gewordenen Überresten der Fürstin Shapu herunter. Kysen war vom Tisch heruntergesprungen, und Meren hielt ihn mit dem Arm zurück.
»Beweg dich nicht«, sagte Meren. Er beugte sich hinunter und hob etwas auf, das neben dem Fuß seines Sohnes lag. Er hielt es vor sich auf seiner Handfläche.
Raneb kam zu ihnen hinüber und betrachtete den kleinen Stein in Merens Hand. »Ein Ib- Amulett. Wir haben Hunderte davon. Dieses hier ist aus Karnel geschnitzt. Andere sind aus Lapislazuli, wieder andere aus Gold. Einer der Bandagierer muß es fallengelassen haben.«
Meren schloß die Finger um das Amulett. Solche Glücksbringer waren für die Lebenden und die Toten gleichermaßen von Bedeutung, denn sie schützten das Herz ihres Trägers, den Ort seiner Gefühle und seines Geistes. Dieses Amulett war nicht dazu geschaffen, an einer Halskette getragen zu werden. Vielleicht hatte Raneb recht, und es gehörte in den Tempel des Anubis.
Meren reichte Kysen das Amulett. »Lege es zu Hormins Besitztümern. Keine Sorge, Priester, wir werden es zurückgeben. Seien Sie frohen Mutes. Immerhin gebe ich Ihnen den Leichnam zurück.«
»Das ist kein Trost, mein Fürst. Wir werden wochenlang Bannsprüche und Gebete sprechen müssen, um diesen Ort vom Bösen zu befreien.«
Vier Männer hoben die Bahre mit dem Leichnam hoch. Als sie an ihnen vorbeikamen, hob Meren die Hand, um sie aufzuhalten. Meren schnüffelte. Er beugte sich über den Leichnam, hob eine Rockfalte des Mannes und schnüffelte erneut. Durch das Gemisch an Gerüchen von Natron und verwesendem Fleisch nahm er einen schwachen, süßlichen Duft wahr – Parfüm. Auf dem Leinen befanden sich gelbe Striemen. Meren ließ den Rock fallen und berührte dabei den Siegelring an Hormins rechter Hand. In den Ring eingraviert waren Hieroglyphen, die Hormins Namen darstellten. Meren richtete sich auf und bedeutete den Trägern, ihn weiterzutragen.
»Kysen, sorge dafür, daß man sämtliche Gegenstände von dem Körper entfernt. Ich werde jetzt in die Amtsräume des Wesiers und anschließend in Hormins Haus gehen. Ich treffe dich, nachdem ich meine Arbeit dort beendet habe.«
Sein Sohn neigte respektvoll den Kopf. Ohne Worte wußten sie beide, daß sich der andere ebenfalls auf ihre Abendunterhaltung freute, in der sie jedes einzelne Ereignis des heutigen Tages, jedes Gespräch, durchgehen und Erfundenes von Wirklichem trennen würden, auf der Suche nach Ma’at – nach Ordnung und Wahrheit. Meren und seine Männer ließen Kysen zurück, um den unglücklichen Raneb und seine Priesterkollegen auszufragen, und fuhren zurück in den Palast, fort aus der Stadt der Toten.
Wenn an einem geweihten Ort ein Mann ermordet wurde, war dies die vornehmste Sorge für den Falken des Pharao. Wenn es sich bei dem Toten um einen Diener des Königs handelte, dann verdiente diese Straftat die Untersuchung durch den Prinzen des westlichen Theben, den Herrn der Geheimnisse des Herrschers über das Zweifache Reich, den heimlichen Ratgeber und Freund des Königs, Meren, den Herrn des Thinite Gaus. Und weil das Böse mit den Geschäften des Königs verbunden war, ging Meren zuerst in die Amtsräume des Wesiers.
Statt sich direkt in die Amtsstube des Ministeriums für Abgaben und Tributzahlungen, in der Hormin gearbeitet hatte, zu begeben, ging Meren zuerst in einen Raum, der angefüllt war mit Stapeln von Papyrusrollen und in dem es vor Angestellten nur so wimmelte. An einem Tisch auf einem
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