Der Fall Charles Dexter Ward
weitverzweigtes Netz von Tunneln und Katakomben lag, das von einer ganzen Reihe weiterer dienstbarer Geister neben dem alten Indianer und seiner Frau bewohnt wurde. Das Haus selbst war ein altes, spitzgiebliges Überbleibsel aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, mit einem riesigen Kamin und vergitterten Fenstern mit rautenförmigen Fensterscheiben, und das Laboratorium befand sich in einem Anbau auf der Nordseite, wo das Dach fast bis auf den Erdboden reichte. Dieses Gebäude stand allein auf weiter Flur, doch nach den verschiedenen Stimmen zu urteilen, die zu sonderbaren Zeiten in diesem Haus vernommen wurden, muß es durch unterirdische Geheimgänge zugänglich gewesen sein. Vor 1766 handelte es sich bei diesen Stimmen um bloßes Gemurmel, das Geflüster von Negern, wahnsinnige Schreie sowie absonderliche Gesänge und Anrufungen. Nach dieser Zeit jedoch wurden sie immer einzigartiger und schrecklicher und umfaßten die ganze Skala vom Dröhnen dumpfen Einverständnisses über rasende Wutausbrüche, gemurmelte Gespräche und weinerliches Flehen bis hin zu erregtem Stöhnen und Protestschreien. Offenbar wurde in mehreren Sprachen gesprochen, die Curwen alle beherrschte, denn es war oft zu hören, wie er mit seiner rauhen Stimme antwortete, tadelte oder drohte.
Manchmal schien es so, als befänden sich mehrere Personen in dem Haus; Curwen, irgendwelche Gefangene und die Wächter dieser Gefangenen. Es gab Sprachen, wie sie Weeden und Smith noch in keinem der vielen fremden Häfen, in denen sie schon gewesen waren, gehört hatten, und wieder andere, die sie anscheinend der einen oder anderen Nationalität zuordnen konnten. Ihrer Art nach schienen die Gespräche stets Verhören ähnlich, so als versuche Curwen, furchtsamen oder aufsässigen Gefangenen irgendwelche Aussagen abzupressen. Weeden hatte in seinem Notizbuch zahlreiche wörtliche Berichte über belauschte Gesprächsfetzen, denn oft wurden Englisch, Französisch und Spanisch verwendet, und diese Sprachen beherrschte er, aber davon ist nichts erhalten geblieben. Er äußerte jedoch einmal, daß, abgesehen von einigen unheimlichen Dialogen, in denen es um die Vergangenheit bestimmter Familien aus Providence ging, die meisten verständlichen Fragen historischer oder wissenschaftlicher Art gewesen seien; hin und wieder hätten sie sich auf sehr ferne Orte oder Zeitalter bezogen. Einmal zum Beispiel sei ein abwechselnd wütender und wortkarger Mann auf französisch über das Massaker des Schwarzen Prinzen in Limoges im Jahre 1370 befragt worden, als gäbe es dafür einen geheimen Grund, über den er Bescheid wissen müsse. Curwen fragte den Gefangenen - wenn es ein Gefangener war -, ob der Befehl für die Metzelei gegeben worden sei, weil auf dem Altar in der alten römischen Krypta das Zeichen der Ziege gefunden worden sei oder weil der Dunkle Mann vom Konvent Haute Vienne die Drei Worte gesprochen habe. Als er keine Antwort bekam, griff der Inquisitor offenbar zu extremen Mitteln; denn es ertönte ein entsetzlicher Schrei, dem Stille, Gemurmel und ein dumpfes Geräusch folgten.
Bei keinem dieser Gespräche konnte Weeden jemals einen Blick auf die Beteiligten erhaschen, denn die Fenster waren immer dick verhängt. Einmal sah er jedoch während eines Gesprächs in einer unbekannten Sprache auf dem Vorhang einen Schatten, der ihn zu Tode erschreckte; er erinnerte ihn an eine der Figuren in einem Puppentheater, das er im Herbst des Jahres 1764 in der Hacher's Hall gesehen hatte; ein Mann aus Germantown, Pennsylvania, hatte das sinnreiche, mechanische Puppenspiel aufgeführt, das er wie folgt angekündigt hatte; »Ansicht der berühmten Stadt Jerusalem, in welcher Jerusalem, der Tempel des Salomon, sein Königsthron, die berühmten Türme und Hügel zu sehen sind; gleichermaßen die Leiden unseres Heilands vom Garten Gethsemane bis zum Kreuz auf dem Hügel von Golgatha; ein höchst kunstreiches Schauspiel, würdig, von allen Neugierigen betrachtet zu werden.« Bei diesem Anblick war der Lauscher, der sich dicht an das Fenster des vorderen Zimmers herangeschlichen hatte, aus dem die Stimmen kamen, so zusammengefahren, daß das alte Indianerpaar ihn bemerkt und die Hunde auf ihn losgelassen hatte. Von da an waren nie wieder Gespräche indem Haus zu hören gewesen, und Weeden und Smith hatten daraus geschlossen, daß Curwen den Ort seiner Handlungen in tiefere Regionen verlegt hatte.
Daß diese Regionen tatsächlich existierten, dafür gab es zahlreiche recht
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