Der Fall Charles Dexter Ward
und wies, abgesehen von dem etwas scharfen Geruch der kryptischen Kammer, keine Spuren auf, die auf eine Herkunft aus einer anderen Welt hätten schließen lassen. Doch der Text selbst war in der Tat höchst verwunderlich; denn es waren keine Schriftzüge aus einem aufgeklärten Zeitalter, sondern vielmehr die unbeholfenen Zeichen des finsteren Mittelalters, kaum leserlich für die Laien, die sich jetzt angestrengt darüber beugten, doch immerhin Kombinationen von Symbolen enthaltend, die auf vage Art vertraut schienen.
Die schnell hingekritzelte Mitteilung ist links unten abgebildet, und ihr Geheimnis gab den beiden Männern ihre Entschlossenheit wieder; unverzüglich gingen sie mit festen Schritten zu Wards Auto hinaus, und der Chauffeur erhielt den Auftrag, sie zunächst in ein ruhiges Gasthaus zum Mittagessen und sodann in die John-Hay-Bibliothek auf dem Hügel zu bringen.
In der Bibliothek waren gute Handbücher der Paläographie schnell gefunden, und über diesen brüteten die beiden Männer, bis der große Kandelaber in abendlichem Glanz erstrahlte. Zu guter Letzt fanden sie, was sie brauchten. Die Buchstaben waren tatsächlich keine phantastische Erfindung, sondern die normale Schrift einer sehr dunklen Epoche. Es waren die spitzigen Minuskeln des achten oder neunten Jahrhunderts nach Christus, und sie weckten Erinnerungen an eine rauhe Zeit, in der sich unter dem noch frischen Anstrich des Christentums uralter Aberglaube und uralte Riten verstohlen regten und der bleiche Mond Britanniens zuweilen auf sonderbare Taten in den römischen Ruinen von Caerleon und Hexhaiis und unter den verfallenen Türmen des Hadrianwalls hinabschaute. Der Text war in einem solchen Latein verfaßt, wie es sich bis in ein barbarisches Zeitalter erhalten hatte - »Corwinus ne.ca.ndus est. Cadaver aq(ua) forti dissolvendum, necaliq(uid) retinendum. Tace utpotes.« - was ungefähr wie folgt zu übersetzen ist: »Curwen muß getötet werden. Sein Körper muß in Ätzwasser aufgelöst und nichts darf zurückbehalten werden. Schweig, so gut du kannst.«
Willett und Mr. Ward waren sprachlos vor Verwunderung. Sie waren mit dem Unbekannten in Berührung gekommen und spürten, daß ihnen nicht die Gefühle zu Gebote standen, um so zu reagieren, wie sie es aufgrund einer vagen Intuition für richtig gehalten hätten. Besonders Willett war kaum noch fähig, neue beklemmende Eindrücke aufzunehmen, und die beiden Männer blieben reglos und ruhig sitzen, bis sie gehen mußten, weil die Bibliothek geschlossen wurde. Resigniert fuhren sie zu Wards Haus in der Prospect Street und unterhielten sich ziellos bis spät in die Nacht hinein. Der Doktor legte sich gegen Morgen zur Ruhe, doch er ging nicht nach Hause. Und er war noch immer im Haus, als am Sonntagmittag ein Anruf von den Detektiven kam, die beauftragt worden waren, Dr. Allen ausfindig zu machen.
Mr. Ward, der nervös in einem Morgenmantel auf und ab ging, nahm selbst den Hörer ab und wies die Leute an, am folgenden Tag frühmorgens vorbeizukommen, nachdem er erfahren hatte, daß der Bericht fast fertiggestellt sei. Willett war genauso erfreut wie er, daß die Angelegenheit wenigstens in dieser Hinsicht Gestalt annahm, denn woher auch immer die sonderbare, in Minuskeln verfaßte Botschaft stammen mochte, es schien klar, daß es sich bei jenem »Curwen«, der zu töten sei, nur um den bärtigen, brillentragenden Fremden handeln konnte. Charles hatte diesen Mann gefürchtet und in seiner verzweifelten Nachricht gesagt, er müsse getötet und in Säure aufgelöst werden. Überdies hatte Allen unter dem Namen Curwen Briefe von den merkwürdigen Hexenmeistern aus Europa erhalten und betrachtete sich offenbar als Avatar des verblichenen Nekromanten. Der Zusammenhang war zu deutlich, um bloß Phantasie zu sein; und plante Allen nicht außerdem. Ward auf den Rat einer Kreatur namens Hutchinson hin zu ermorden? Natürlich hatte der Brief, den sie gelesen hatten, den bärtigen Fremden nie erreicht, doch dem Inhalt war zu entnehmen, daß Allen schon Vorkehrungen für den Fall getroffen hatte, daß der junge Mann zu »zimperlich« würde. Allen mußte unbedingt gefaßt werden; und wenn auch die drastischen Anweisungen nicht befolgt wurden, mußte er doch zumindest an einen Ort gebracht werden, von dem aus er Charles nicht mehr schaden konnte.
An diesem Nachmittag fuhren der Vater und der Doktor über die Bucht -entgegen aller Vernunft von der Hoffnung beseelt, wenigstens den Anflug einer Auskunft
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