Der Fall Charles Dexter Ward
sich über solche Anwandlungen und alle bösen Vorahnungen hinweg. Hier gab es nichts Lebendiges, ihm ein Leid anzutun, und nichts konnte ihn davon abhalten, diesen dunklen Schleier zu zerreißen, der seinen Patienten umfangen hielt.
Der Raum hinter der Tür war mittelgroß und ohne Mobiliar, abgesehen von einem Tisch, einem einzelnen Stuhl und zwei Gruppen sonderbarer Maschinen mit Klammern und Rädern, in denen Willet sogleich mittelalterliche Folterinstrumente erkannte. Auf der einen Seite stand ein Gestell mit furchtbaren Peitschen, und darüber befanden sich ein paar Borde mit Reihen leerer, flacher Bleischalen mit Füßen, geformt wie griechische Becher. Auf der anderen Seite stand der Tisch mit einem starken Argandbrenner, Block und Bleistift sowie zwei der zugestöpselten Lekythen aus dem anderen Raum, die offenbar nur vorläufig oder in Eile auf der Tischplatte abgestellt worden waren. Willet zündete die Lampe an und inspizierte sorgfältig den Block, um zu sehen, was der junge Ward gerade geschrieben hatte, als er unterbrochen wurde; aber er fand nichts Verständliches außer den folgenden zusammenhanglosen Bruchstücken in der verschnörkelten Handschrift Joseph Curwens, die kein Licht in die Angelegenheit als solche brachten:
»B. nicht gestorben. Entwich in die Wände und fand Platz unten.« »Sah den alten V. den Sabaoth sagen und lernte die Arth und Weyse.« »Erweckte Yog-Sothoth dreymal und ward am folgenden Tag befreiet.« »F. suchte all jene auszulöschen, die wußten, wie Jene von Draußen zu erwecken seien.«
Als der starke Argandbrenner das ganze Zimmer erleuchtete, sah der Doktor, daß in die Wand gegenüber der Tür, zwischen den beiden Gruppen von Folterinstrumenten in den Ecken, Haken geschlagen waren, an denen mehrere formlos aussehende Roben von ziemlich düsterer, gelblich-weißer Farbe hingen. Viel interessanter aber waren die beiden leeren Wände, die dicht mit mystischen Symbolen und Formeln bedeckt waren, die man auf grobe Art in die schön geglätteten Steinflächen gemeißelt hatte. Auch der feuchte Fußboden wies Meißelspuren auf, und Willett entzifferte mit nur wenig Mühe ein riesiges Pentagramm in der Mitte sowie je einen einfachen Kreis von etwa drei Fuß Durchmesser auf halbem Weg zwischen dem Pentagramm und jeder Ecke. In einem dieser vier Kreise, dicht neben einer achtlos hingeworfenen Robe, stand ein flacher griechischer Becher von der Art, wie sie sich auf den Borden über dem Peitschenständer befanden; und gerade außerhalb der Umfangslinie stand einer der Phaleronkrüge aus dem anderen Raum, mit der Nummer 118 auf dem Etikett. Dieser Krug war nicht zugestöpselt und erwies sich bei näherem Hinsehen als leer; doch schaudernd mußte Willett feststellen, daß dies bei dem griechischen Becher nicht der Fall war. In der flachen Schale lag ein kleines Häufchen trockenes, stumpf-grünliches, effloreszierendes Pulver, das aus dem Krugstammen mußte und nur deshalb nicht aufgewirbelt worden war, weil sich in dieser abgelegenen Katakombe kein Lüftchen regte; Willett taumelte beinahe unter dem Ansturm der Gedanken und Schlußfolgerungen, die sich ihm aufdrängten, als er im Geiste die verschiedenen Elemente und Voraussetzungen der Szene zu einem Ganzen zusammenfügte. Die Peitschen und die Folterinstrumente, die Pulver oder Salze aus dem Regal mit der Aufschrift »Materia«, die zwei Lekythen vom Bord der »Custodes«, die Roben, die Formeln an den Wänden, die Notizen auf dem Block, die Hinweise aus den Briefen und Legenden, und die tausend Beobachtungen, Zweifel und Vermutungen, die den Freunden und Eltern von Charles Ward zur Qual geworden waren - all dies schlug wie eine Woge des Grauens über dem Doktor zusammen, als er auf das Häufchen trockenen grünlichen Staubs in dem bleiernen Becher auf dem Fußboden hinabschaute.
Aber Willett riß sich schließlich doch zusammen und fing an, die Formeln an den Wänden zu studieren. Die fleckigen und verkrusteten Buchstaben waren offensichtlich in Joseph Curwens Zeit in den Stein gemeißelt worden, und der Text war von solcher Art, daß er einem, der eine Menge Material über Curwen gelesen oder sich ausgiebig mit der Geschichte der Magie befaßt hatte, irgendwie vertraut vorkommen mußte. Einen Spruch erkannte der Doktor zweifelsfrei als denselben, den Mrs. Ward an jenem unheilvollen Karfreitag ihren Sohn hatte rezitieren hören und bei dem es sich, wie ein Fachmann ihm versichert hatte, um eine schreckliche
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