Der Fall des Lemming
muss er sich doch mitschuldig fühlen. Und er wird dastehen wie der größte Trottel der Wiener Polizeigeschichte.
«Schau, schau, der Trottel …» Ein fröhliches Grinsen auf den Lippen, stiefelt Kriminalgruppeninspektor Adolf Krotznig den Hang herunter, gefolgt von einem hageren jungen Mann im Trenchcoat und einem sehr betagten, rundlichen mit schütterem Haar und dicken Brillen. Es gibt solche Tage. Die Augen schließen. An gar nichts mehr denken. Die Dinge geschehen lassen. Das sanfte Streichen des Windes durchs Gras. Das Rauschen im Wald. Die kühle, heuduftende Luft. Von weit her der zaghafte Klang einer Kirchenglocke. Vier Uhr ist es. Der Bussard kreist nicht mehr. Er richtet sich auf, steht kurz ganz still am Himmel, stößt dann hinab, pfeilschnell und elegant, verschwindet hinter den Bäumen.
Es gibt solche Tage.
«Habe d’Ehre …», brummt Krotznig, der, seine Hände tief in den Manteltaschen vergraben, über Grinzingers Leiche steht, und nickt anerkennend. «Ganze Arbeit, Nackerter. Und? Warum? Drogen? Geld? Oder Sex?»
«Ich bin das nicht gewesen.»
«Er is des ned g’wesn!» Mit dem Ausdruck höchsten Erstaunens zieht Krotznig die Augenbrauen hoch und wendet sich an den Mann im Trenchcoat: «Vastehst, Huber? Er is des ned g’wesn …»
Der junge Mann blickt betreten zu Boden. Er tritt von einem Bein aufs andere, sieht dann den Lemming an, hüstelt verlegen und meint: «Sie kennen Ihre Rechte?»
«Der da hat kane Rechte!», fährt Krotznig dazwischen. «Kumm mir du ned scho wieder mit deine Rechte, du linke Studentenschwuchtel!»
Die vier Gendarmen horchen auf. Huber, der Mann mit dem Trenchcoat, errötet bis unter die Haarspitzen. Öffnet den Mund zu einem heiseren Krächzen. Huber kämpft mit den Tränen.
Der wievielte mag das sein?, überlegt der Lemming. Wie viele Partner hat Krotznig wohl nach mir verbraucht?
Der bebrillte Alte, eben noch damit beschäftigt, durch eine riesenhafte Lupe den geborstenen Schädel Grinzingers zu inspizieren, schüttelt mit vernehmbarem Seufzen den Kopf. «Geh, helft’s mir wer …» Er lässt sich von einem der Uniformierten auf die Beine helfen und tritt auf den Lemming zu. «Servus, Wallisch.» – «Grüß Sie, Doktor.»
Die beiden kennen einander aus früheren, besseren Zeiten. Bernatzky war schon eine Legende, bevor der Lemming in die Dienste der Polizei getreten ist. Wirklich berühmt ist Bernatzky Mitte der achtziger Jahre geworden, als er entscheidend zur Klärung der so genannten Eisvogel-Morde beitrug. «I bin halt a pathologischer Pathologe», hat Bernatzky damals einem Reporter verraten und achselzuckend hinzugefügt: «Schaun S’, wir Forensiker haben s’ doch von allen Ärzten mit Abstand am besten: Unsere Patienten san die reinen Engerln. Immer brav, immer ruhig. Und das Wichtigste is: Sie san alle unsterblich, einer wie der andere. Da kann ma als Mediziner gar nix falsch machen, oder haben S’ schon amal von an nekroskopischen Kunstfehler g’hört?»
Der Doktor beugt sich zum Lemming hinunter und hebt seine Lupe. «Darf ich?» – «Aber sicher.»
Bernatzkys Lupe wandert bedächtig über das Gesicht des Lemming, die gewaltig vergrößerte Nase entlang über Wangen und Ohren seinen Hals hinunter, schwebt lange über den Faltenschluchten der groben Holzfällerjacke, gleitet an Armen und Händen hin bis zu den Fingerspitzen.
«Vergessen S’ das, Krotznig. Nehmt’s ihm die Handschellen ab.»
Jetzt ist es plötzlich Krotznigs Kinnlade, die offen steht. «Was … was … wieso?»
«Schaun S’, Krotznig», beginnt Bernatzky mit kaum verhaltenem Frohsinn zu dozieren, «ich weiß net, ob Sie’s verstehen werden, aber es hat was mit mangelnder Viskosität zu tun, also gleichsam dem spezifischen Aggregatzustand von Fluida. Ich versuch’s einmal, in Ihre Sprach’ zu übersetzen: Wissen S’, Krotznig, Blut ist ein ganz besonderer Saft, und es ist … flüssig. Und wenn’s flüssig is, dann spritzt’s. Und wenn’s spritzt, dann spritzt’s nicht grad links und rechts am Mörder vorbei. Der Wallisch is sauber, das können S’ mir glauben. Außer …»
Krotznigs Augen leuchten auf. Er schöpft Hoffnung.
«Außer der Herr Wallisch ist selbstreinigend, also quasi ein sanitäres Wunder.»
Es gibt solche Tage. Aber die abgrundtiefe Niedertracht dieses fünfzehnten März scheint nun doch von einer homöopathischen Dosis Glück gemildert zu werden. Dazu kommt, dass der schwer enttäuschte Krotznig die Befragung des Zeugen
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