Der Fall (German Edition)
du mir büßen!», sagte eine Tochter zu ihrem Vater, der ihre Heirat mit einem allzu geschniegelten Verehrer hintertrieben hatte. Und brachte sich um. Doch der Vater hat gar nichts gebüßt. Er war ein leidenschaftlicher Angler. Drei Sonntage später ging er wieder an den Fluss, um Vergessen zu suchen, wie er sagte. Die Rechnung stimmte: Er vergaß. Offen gestanden wäre das Gegenteil verwunderlich gewesen. Man glaubt zu sterben, um seine Frau zu strafen, und dabei gibt man ihr die Freiheit zurück. Da ist es schon besser, so etwas nicht mitansehen zu müssen. Ganz zu schweigen von dem Umstand, dass man Gefahr liefe, zu vernehmen, was für Gründe einem untergeschoben werden. In meinem Fall höre ich sie geradezu: «Er hat sich umgebracht, weil er es nicht ertragen konnte, dass …» Ach, verehrter Freund, wie dürftig ist doch die Phantasie der Menschen! Sie wähnen immer, man begehe Selbstmord aus einem Grund. Aber man kann sich das Leben sehr wohl aus zwei Gründen nehmen … Doch nein, das will ihnen nicht in den Kopf. Wozu dann also freiwillig sterben, sich für das Bild opfern, das die anderen sich von einem machen sollen! Wenn man tot ist, nützen sie das sofort aus, um die Tat durch idiotische oder aber vulgäre Beweggründe zu erklären. Die Märtyrer, verehrter Freund, haben die Wahl, vergessen, verspottet oder ausgebeutet zu werden. Verstanden werden sie nie.
Und zudem – ohne Umschweife sei es bekannt – liebe ich das Leben, darin besteht meine wahre Schwäche. Ich liebe es so sehr, dass meine Vorstellungskraft nichts zu erfassen vermag, was außerhalb liegt. Eine solche Gier hat etwas Plebejisches, finden Sie nicht? Aristokratie ist nicht denkbar ohne eine gewisse Distanz sich selber und seinem eigenen Leben gegenüber. Man stirbt, wenn es sein muss, man will lieber brechen als biegen. Ich jedoch biege, weil ich fortfahre, mich zu lieben. Was glauben Sie zum Beispiel, dass ich nach all den Erlebnissen empfand, von denen ich Ihnen erzählte? Ekel vor mir selber? Bewahre! In erster Linie Ekel vor den Mitmenschen. Gewiss sah ich mein Versagen immer ein und bedauerte es. Und doch fuhr ich fort, es mit recht verdienstlicher Beharrlichkeit zu vergessen. Über die Mitmenschen hingegen saß ich in meinem Herzen unablässig zu Gericht. Das finden Sie sicher empörend? Sie denken vielleicht, es sei nicht logisch? Es geht aber nicht darum, logisch zu sein. Es geht darum, zwischen den Maschen hindurchzuschlüpfen, und vor allem, o ja, vor allem darum, sich dem Urteil zu entziehen. Ich sage nicht, sich der Strafe zu entziehen, denn die Strafe ohne Urteil ist erträglich. Sie hat übrigens einen Namen, der für unsere Unschuld bürgt: das Unglück. Nein, es handelt sich im Gegenteil darum, dem Urteil zu entgehen, sich nicht ständig richten zu lassen, sodass der Spruch nie gefällt wird.
Aber man entgeht ihm nicht so leicht. Zum Richten sind wir heutzutage immer bereit, wie zum Huren. Mit dem Unterschied, dass hier kein Versagen zu befürchten ist. Wenn Sie daran zweifeln, so lauschen Sie ein bisschen auf die Tischgespräche in jenen Ferienhotels, wo unsere so ungemein liebreichen Mitbürger im August ihre Langeweilekur absitzen. Wenn Sie immer noch nicht überzeugt sind, so lesen Sie die Schriften unserer großen Zeitgenossen. Oder beobachten Sie Ihre eigene Familie, dann wird Ihnen ein Licht aufgehen. Mein lieber Freund, geben wir ihnen ja keinen Vorwand, auch nicht den geringsten, uns zu richten! Sonst werden wir in Stücke gerissen. Wir sind zu der gleichen Vorsicht gezwungen wie der Tierbändiger. Wenn er das Pech hat, sich vor dem Betreten des Käfigs beim Rasieren zu schneiden – was für ein Festschmaus für die Raubtiere! Das ist mir mit einem Schlag an jenem Tag aufgegangen, da mir der Verdacht kam, dass ich vielleicht nicht ganz so bewundernswert sei. Von diesem Augenblick an war ich auf der Hut. Da ich ein wenig blutete, lief ich Gefahr, restlos draufzugehen: Sie waren bereit, mich zu verschlingen.
Meine Beziehungen zu den Mitmenschen blieben scheinbar dieselben, und doch gerieten sie unmerklich aus dem Gleichgewicht. Meine Freunde hatten sich nicht verändert. Sie rühmten gelegentlich immer noch die Harmonie und die Sicherheit, die man im Umgang mit mir fand. Ich jedoch spürte nur die Missklänge, die Unordnung, die mich erfüllte; ich fühlte mich verwundbar und dem öffentlichen Ankläger ausgeliefert. Die Menschen hörten auf, die ehrfürchtigen Zuhörer zu sein, die sie bisher in meinen
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