Der Fall (German Edition)
wenn man ihn zu den Anstrengungen beglückwünscht, dank denen er klug oder großmütig geworden ist. Er wird dagegen aufstrahlen, wenn man seine angeborene Großmut bewundert. Sagt man umgekehrt einem Verbrecher, sein Vergehen sei nicht auf seine Veranlagung oder seinen Charakter, sondern auf unglückliche Umstände zurückzuführen, so bezeigt er überwältigende Dankbarkeit. Während des Plädoyers wird er sogar diesen Augenblick wählen, um heiße Tränen zu vergießen. Und doch ist es kein Verdienst, von Natur aus ehrlich oder klug zu sein, wie man auch bestimmt keine größere Verantwortung trägt, wenn nicht die Umstände einen zum Verbrechen treiben, sondern die Veranlagung. Aber diese Gauner wollen die Gnade, das heißt die Unverantwortlichkeit, und sie berufen sich ohne jede Scham auf die Rechtfertigung durch die Natur oder die Entschuldigung durch die Umstände, selbst wenn sie miteinander im Widerspruch stehen. Hauptsache ist, dass sie für unschuldig befunden werden, dass ihre Tugenden ihnen in die Wiege gelegt wurden und deshalb nicht in Zweifel gezogen werden können, während ihre Fehler nur einem vorübergehenden Unglück zuzuschreiben sind und deshalb keine Dauer besitzen. Ich habe es Ihnen ja gesagt: es kommt vor allem darauf an, dem Urteil zu entgehen. Da dies schwierig ist, da es ein heikles Unterfangen ist, seine Natur gleichzeitig bewundern und entschuldigen zu lassen, suchen sie alle reich zu werden. Warum? Haben Sie sich das schon gefragt? Natürlich der Macht wegen. Aber in erster Linie, weil der Reichtum einen dem sofortigen Urteil entzieht, einen aus dem Gedränge der Untergrundbahn herauslöst und in einen verchromten Wagen einschließt, einen in großen, bewachten Parks, in Schlafwagen und Luxuskabinen absondert. Der Reichtum, verehrter Freund, ist noch nicht der Freispruch, wohl aber der immerhin nicht zu verachtende Aufschub …
Schenken Sie Ihren Freunden ja keinen Glauben, wenn Sie ihnen versprechen sollen, aufrichtig zu sein. Sie wünschen nur, in der guten Meinung, die sie von sich selber hegen, bestärkt zu werden, im Versprechen, die ungeschminkte Wahrheit zu sagen, eine zusätzliche Sicherung zu finden. Warum sollte die Aufrichtigkeit eine Bedingung der Freundschaft sein? Die Wahrheitsliebe um jeden Preis ist eine Leidenschaft, die nichts verschont und der nichts widersteht. Sie ist ein Laster, bisweilen ein Ausdruck der Bequemlichkeit oder der Selbstsucht. Wenn Sie sich also in einem solchen Fall befinden, zögern Sie nicht! Versprechen Sie, die Wahrheit zu sagen, und lügen Sie, so gut Sie es vermögen. Damit werden Sie dem geheimen Wunsch Ihrer Freunde entsprechen und ihnen Ihre Zuneigung doppelt beweisen.
Wie wahr das ist, geht aus der Tatsache hervor, dass wir uns selten denen anvertrauen, die besser sind als wir. Im Gegenteil, wir pflegen sie eher zu meiden; unsere Geständnisse machen wir mit Vorliebe denen, die uns gleichen und unsere Schwächen teilen. Wir begehren also nicht, uns zu bessern oder gebessert zu werden, denn zuerst müsste man uns ja für fehlbar befinden! Wir wünschen nur, bedauert und in unserem Tun ermutigt zu werden. Im Grunde möchten wir nicht mehr schuldig sein und gleichzeitig keine Anstrengung machen, um uns zu läutern. Nicht genug Zynismus und nicht genug Tugend. Wir haben weder die Kraft zum Bösen noch die zum Guten. Kennen Sie Dante? Wirklich? Teufel auch! Sie wissen also, dass es bei Dante Engel gibt, die im Streit zwischen Gott und Satan neutral bleiben. Und er weist ihnen ihren Aufenthalt in der Vorhölle an. Wir befinden uns in der Vorhölle, verehrter Freund.
Geduld? Sie haben zweifellos recht. Wir sollten die Geduld aufbringen, das Jüngste Gericht abzuwarten. Aber eben, wir haben es eilig. So eilig sogar, dass ich gezwungen war, Buß-Richter zu werden. Indessen musste ich zuerst mit meinen Entdeckungen fertig werden und mit dem Lachen meiner Zeitgenossen ins Reine kommen. Von dem Abend an, da ich aufgerufen wurde – denn ich wurde wirklich aufgerufen –, musste ich antworten oder zumindest nach der Antwort suchen. Es war nicht leicht, und ich bin lange Zeit in die Irre gegangen. Zuerst mussten dieses ständige Lachen und die Lacher mich lehren, in mir selber klarzusehen und endlich zu merken, dass ich nicht einfach war. Lächeln Sie nicht, diese Wahrheit ist nicht so selbstverständlich, wie sie scheint. Selbstverständliche Wahrheiten nennt man die, die man zuletzt entdeckt, das ist alles.
Immerhin habe ich nach eingehender
Weitere Kostenlose Bücher