Der Fall (German Edition)
Augen gewesen waren. Der Kreis, dessen Mittelpunkt ich war, zersprang, und sie stellten sich alle in eine Reihe wie bei Gericht. Vom Augenblick an, da ich befürchtete, es sei an mir etwas zu richten, merkte ich, dass sie im Grunde eine unwiderstehliche Berufung zum Richten in sich trugen. Gewiss, sie umgaben mich wie früher, aber sie lachten. Oder vielmehr war mir, als ob jeder, dem ich begegnete, mich mit einem verhohlenen Lächeln anschaute. Zu jener Zeit gewann ich sogar den Eindruck, dass man mir hin und wieder ein Bein stellte. Denn zwei- oder dreimal stolperte ich beim Betreten eines öffentlichen Lokals ganz ohne Grund. Einmal fiel ich sogar der Länge nach hin. Als guter Kartesianer, wie sich dies für einen Franzosen gehört, fasste ich mich jedoch gleich wieder und schrieb diese Missgeschicke der einzigen vernünftigen Gottheit zu, nämlich dem Zufall. Gleichviel – ein gewisses Misstrauen blieb zurück.
Nachdem meine Aufmerksamkeit einmal geweckt war, fiel es mir nicht schwer, festzustellen, dass ich Feinde besaß. Zunächst in meinem Beruf, dann aber auch in meinem Privatleben. Die einen hatte ich mir verpflichtet, die anderen hätte ich mir verpflichten sollen. Im Grunde war das alles ganz natürlich, und die Entdeckung bekümmerte mich nicht allzu sehr. Hingegen war es schwerer und schmerzlicher, zu erkennen, dass ich auch unter Leuten, die ich kaum oder gar nicht kannte, Feinde besaß. Mit der Naivität, für die ich Ihnen nun einige Beweise geliefert habe, war ich immer überzeugt gewesen, dass diejenigen, die mich nicht kannten, mich unweigerlich gern haben müssten, sobald sie mit mir verkehrten. Mitnichten! Ich stieß auf Feindschaft gerade bei Menschen, die mich nur von sehr ferne kannten und die mir selber völlig fremd waren. Zweifellos hatten sie mich im Verdacht, in vollen Zügen zu leben und mich rückhaltlos dem Glück hinzugeben – das aber ist unverzeihlich. Die auf eine gewisse Art zur Schau getragene Aura des Erfolgs könnte das geduldigste Lamm zur Raserei treiben. Andererseits war mein Leben bis zum Rande ausgefüllt, und aus Zeitmangel wies ich manches Entgegenkommen zurück. Aus dem gleichen Grund vergaß ich nachher meine Ablehnung. Aber entgegengekommen waren mir Leute, deren Leben nicht ausgefüllt war und die aus eben diesem Grunde meine Ablehnung nicht vergaßen.
So kamen die Frauen, um nur ein Beispiel herauszugreifen, mich letzten Endes teuer zu stehen. Die mit ihnen verbrachte Zeit konnte ich nicht den Männern widmen, und diese verziehen mir das nicht immer. Was tun? Glück und Erfolg werden einem nur vergeben, wenn man großmütig einwilligt, beide zu teilen. Aber um glücklich zu sein, darf man sich nicht zu sehr mit den Mitmenschen beschäftigen. Und so ist die Lage ausweglos. Glücklich und gerichtet oder freigesprochen und elend. In meinem Fall war die Ungerechtigkeit noch größer: Ich wurde um eines ehemaligen Glückes willen verurteilt. Lange hatte ich im Wahn einhelligen Wohlwollens gelebt, während von allen Seiten Richtsprüche, Pfeile und Spötteleien auf mich, der ich zerstreut lächelte, herunterprasselten. An jenem Tag, da das Warnsignal mich aufschreckte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen; ich empfing alle Wunden gleichzeitig und verlor meine Kräfte auf einen einzigen Schlag. Und das ganze Weltall um mich herum begann zu lachen.
Gerade das ist es jedoch, was kein Mensch – es sei denn ein Weiser, aber der lebt ja nicht – ertragen kann. Die einzige Gegenwehr besteht in der Bosheit. Die Leute beeilen sich dann, zu richten, um nicht selber gerichtet zu werden. Was wollen Sie? Es gibt für den Menschen keinen Begriff, der ihm so natürlich, so selbstverständlich und gleichsam im Grund seines Wesens verwurzelt erschiene wie der Begriff seiner Unschuld. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, sind wir alle wie jener kleine Franzose, der in Buchenwald unbedingt bei einem Mitgefangenen, der als Schreiber seine Ankunft einzutragen hatte, Beschwerde einreichen wollte. Beschwerde? Der Schreiber und seine Kameraden lachten. «Vollkommen sinnlos, mein Lieber. Hier beschwert man sich nicht!» – «Aber wissen Sie, Monsieur», sagte der kleine Franzose, «ich bin eben ein Sonderfall. Ich bin nämlich unschuldig!»
Wir alle sind Sonderfälle, wir alle wollen aus irgendeinem Grund Berufung einlegen. Jeder verlangt um jeden Preis unschuldig zu sein, selbst wenn dafür Himmel und Erde angeklagt werden müssen. Man bereitet einem Menschen nur mäßige Freude,
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