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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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kam. Es war, als übertrüge ich die bei der einen eingegangene Schuld auf alle anderen. So groß übrigens die scheinbare Verwirrung meiner Gefühle auch sein mochte, das Ergebnis war eindeutig: Ich bewahrte mir jede Zuneigung, um mich ihrer zu bedienen, wann es mir passte. Ich konnte also zugegebenermaßen nur unter der Bedingung leben, dass auf dem ganzen Erdenrund alle oder doch möglichst viele Menschen mir zugekehrt waren, unwandelbar frei für mich, des Eigenlebens beraubt, allzeit bereit, meinem Ruf Folge zu leisten, der Unfruchtbarkeit anheimgegeben in Erwartung des Tages, da ich geruhen würde, ihnen mein Licht zuteil werden zu lassen. Kurzum, damit ich glücklich sein konnte, durften die von mir erwählten Geschöpfe kein Leben besitzen. Sie sollten ihr Leben nur von Zeit zu Zeit nach meinem Belieben von mir empfangen.
    Oh, Sie dürfen mir glauben, dass ich Ihnen dies alles ohne Selbstgefälligkeit erzähle! Wenn ich an jenen Abschnitt meines Lebens denke, da ich alles forderte und selbst nichts dafür zahlte, da ich so viele Menschen in meinen Dienst nahm, sie gewissermaßen auf Eis legte, um sie nach Lust und Laune zu gegebener Zeit bei der Hand zu haben, beschleicht mich ein eigenartiges Gefühl, das ich nicht richtig zu benennen weiß. Sollte es am Ende Scham sein? Sagen Sie mir, Verehrtester, ist die Scham nicht ein Gefühl, das ein bisschen brennt? Wirklich? Dann ist es wahrscheinlich Scham oder irgendeines jener lächerlichen Gefühle, die mit der Ehre zusammenhängen. Wie dem auch sei, mir will scheinen, dieses Gefühl habe mich nie mehr verlassen, seit ich im Mittelpunkt meines Gedächtnisses jenes Erlebnis wiederfand, dessen Bericht ich nun nicht länger hinauszuschieben vermag, trotz all meiner Abschweifungen, trotz aller Bemühungen meiner Erfindungsgabe, der Sie, wie ich hoffe, Gerechtigkeit widerfahren lassen.
    Wahrhaftig, der Regen hat aufgehört! Haben Sie doch die Güte, mich nach Hause zu begleiten! Ich fühle mich müde, seltsam müde, nicht weil ich so viel gesprochen habe, sondern beim bloßen Gedanken an das, was mir noch zu sagen bleibt. Ach was! Ein paar Sätze genügen, um von meiner entscheidenden Entdeckung zu berichten. Warum auch viele Worte machen? Erst wenn der Taubenschwarm der schönen Reden aufgeflogen ist, wird das Standbild in seiner ganzen Blöße sichtbar. Nun denn. In einer Nacht im November, zwei oder drei Jahre vor dem Abend, da ich in meinem Rücken ein Lachen zu hören vermeinte, kehrte ich über den pont Royal aufs linke Seineufer nach Hause zurück. Es war eine Stunde über Mitternacht; ein feiner Regen fiel, ein Nieseln vielmehr, das die vereinzelten Fußgänger verscheuchte. Ich kam eben von einer Freundin, die nun gewiss bereits schlief. Ich war glücklich über diesen Gang durch die Nacht, ein wenig benommen, und das Blut, das meinen beruhigten Körper durchpulste, war sanft wie der Regen. Auf der Brücke erblickte ich eine Gestalt, die sich über das Geländer neigte und den Fluss zu betrachten schien. Im Näherkommen gewahrte ich, dass es eine schlanke, schwarzgekleidete junge Frau war. Zwischen dem dunklen Haar und dem Mantelkragen war ein frischer, regennasser Nacken sichtbar, der mich nicht gleichgültig ließ. Eine Sekunde lang zögerte ich, dann setzte ich meinen Weg fort. Auf dem anderen Ufer schlug ich die Richtung zur place Saint-Michel ein, wo ich wohnte. Ich hatte schon etwa fünfzig Meter zurückgelegt, als ich das Aufklatschen eines Körpers auf dem Wasser hörte; in der nächtlichen Stille kam mir das Geräusch trotz der Entfernung ungeheuerlich laut vor. Ich blieb jäh stehen, wandte mich jedoch nicht um. Beinahe gleichzeitig vernahm ich einen mehrfach wiederholten Schrei, der flussabwärts trieb und dann plötzlich verstummte. In der unvermittelt erstarrten Nacht erschien mir die zurückgekehrte Stille endlos. Ich wollte laufen und rührte mich nicht. Ich glaube, dass ich vor Kälte und Fassungslosigkeit zitterte. Ich sagte mir, dass Eile nottat, und fühlte, wie eine unwiderstehliche Schwäche meinen Körper überfiel. Ich habe vergessen, was ich in jenem Augenblick dachte. «Zu spät, zu weit weg …» oder etwas Derartiges. Regungslos lauschte ich immer noch. Dann entfernte ich mich zögernden Schrittes im Regen. Ich benachrichtigte niemand.
    Aber wir sind am Ziel, das ist mein Haus, mein Unterschlupf. Morgen? Gewiss, wenn Sie Lust haben. Ich will Sie gerne auf die Insel Marken führen und Ihnen die Zuidersee zeigen. Treffen wir uns um

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