Der Fall Maurizius
eine Bewegung, bei der Herr von Andergast den alten Maurizius vor sich sieht, wie der vor ihm gestanden, die Hand auf dem Scheitel, es ist etwas Geheimnisvolles um Abstammung, was die Natur an Äußerlichkeiten vom Vater auf den Sohn verpflanzt, ist viel zeugender und oft auch wahrer als die Innerlichkeiten. Maurizius erwidert stockend, jedoch fest, er habe niemals, zu keiner Zeit, unter keinen Umständen den Gedanken an seine Rehabilitation aufgegeben. Herr von Andergast läßt die Zeigefinger beider Hände umeinander spielen. Rehabilitation? Daran sei wohl kaum zu denken. Es stehe jedenfalls in weitem Feld. Eine solche Möglichkeit, wenn sie vorhanden wäre, hätte ihn auch nicht zu der heutigen Unterredung bestimmen können. Man habe die reale Lage der Dinge in Betracht zu ziehen. Die zeige nur einen einzigen Weg. Und auch dieser Weg sei nur gangbar, wenn eine gewisse Bedingung erfüllt werde, die daran geknüpft sei wie die Angelschnur an die Rute. »Ich verstehe«, sagt Maurizius. – »Ich glaube selbst, daß wir uns verstehen«, sagt Herr von Andergast. Pause.
»Es ist wieder einmal ein Versuch am untauglichen Objekt«, beginnt Maurizius mit seiner ungeübten Stimme und blickt mit zusammengezogenen Brauen auf seine Knie. »Seit ich in dem Haus lebe, haben sich viele schon bemüht. Sie waren ganz wild vor Ehrgeiz nach dem einen Ziel, Direktoren, denn daß wir einen Vorsteher haben, ist ja eine neue Einrichtung, vier Direktoren, darunter ein ehemaliger Oberst, dann die verschiedenen Herren von der Vollzugsbehörde, auch ein Herr aus dem Ministerium war ein paarmal hier, nun, und vor allem die geistlichen Herren natürlich. Pfarrer Porschitzky, den wir jetzt haben, ist der siebente, der zu mir kommt. (Er zählt in Gedanken nach.) Ja, der siebente. Einer, ich weiß nicht, ob es der dritte oder vierte war, er hieß Meinertshagen, ging einmal zwei Tage und zwei Nächte nicht aus meiner Zelle. In derselben Zeit und mit weniger Anstrengung hätte er ein ganzes Negerdorf bekehren können. Es war schließlich, als ob man mir den Schädel zerhämmert hätte. Da sagte ich ihm in meiner Verzweiflung, damals konnt ich noch über so etwas verzweifeln: Herr Pfarrer, als Moses aus dem Felsen Wasser schlug, tat er ein Wunder. Sie wollen auch an mir ein Wunder tun, aber was Sie aus mir herauszaubern wollen, müßten Sie vorher erst hineinzaubern. Wie soll ein Mann eine Tat gestehen, die er nicht verübt hat? Da gab er es auf, aber von dem Tag ab war ich Luft für ihn. Er hat mir nicht geglaubt. Es glaubt mir keiner.«
Herrn von Andergasts Miene drückt ein gewissermaßen phrasenhaftes Bedauern aus. Er will nicht den Anschein erwecken, als »glaube« auch er nicht, aber Maurizius wird wohl wissen, daß er nicht »glaubt«. Man einigt sich vorläufig mit ihm auf der Basis höflichen Zuhörens. Man hat schon viel damit erreicht, daß er auf das Thema von selber gekommen ist, und möchte ihn um keinen Preis in seinen Ergießungen stören. Herr von Andergast weiß, daß diese Leute, zwangseinsam seit Jahrzehnten, bei dem geringsten Anstoß, auch wenn man sie nur durch einen Blick zum Sprechen ermutigt, in einen Automatismus der Mitteilung verfallen. Sie empfinden es als eine erlösende Wohltat, wenn man ihnen bloß das Ohr leiht, und rechnen auf Zwiesprache kaum. Aber es ist, als wittre Maurizius diese Spekulation seines Besuchers. Du magst dies und anderes vielleicht wissen, scheint ein flüchtiges Zucken seines Mundes zu bedeuten, aber was weißt du von den »Jahrzehnten«? Was weißt du von der Zeit? Daß Zeit ist , wißt ihr alle nicht, nur daß sie war . Gegenwart ist für euch ein herrlicher Blitz zwischen zwei Finsternissen, für mich eine nicht endende Finsternis zwischen einem Feuer, das unter den Horizont versunken ist, und einem, auf dessen Aufgang ich warte. Ewiges, ewiges Warten ist meine Gegenwart, und solang ich warten muß, ins unabsehbar Ungewisse hinein, ist Gegenwart. Nur der kennt die Hölle, der erfahren hat, was Gegenwart wirklich ist. Wie die wächsernen Deckel über den Augen einer Puppe heben sich Maurizius' Augenlider. Es ist, als begriffe er jetzt erst, wer da vor ihm sitzt, daß es derselbe Mann ist, der ihn einst, vor vieler, vieler Zeit, mit übermenschlicher Unerbittlichkeit in diesen Abgrund gestoßen hat. Wie ist es möglich, daß du noch lebst? scheint sein nach innen grabender Blick zu fragen, indes er mit den seltsam kleinen, weißen Zähnen des Unterkiefers an der Lippe nagt, wie ist es
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