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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Todesängste, Todeswünsche, Lebensgier und Fleischesgier, der ganze Raub des Lebens: verleiblicht in dem einen Mann. Er fühlt sich ihm grauenhaft nah, so nah, wie einem im Traum zuweilen der eingeborene Widersacher ist. Mit ihm abzurechnen ist wie Stillung eines seit achtzehneinhalb Jahren ungewußt gehegten Verlangens. Doch er muß zur Ruhe kommen. Er darf den einmal gewesenen Menschen in seinem Innern nicht auferstehen lassen. Ihm ahnt, daß er mit dem Mann da Zeit hat. Er sagt still: »Ein Richter muß mir meine Schuld beweisen. Daß ich ihm meine Unschuld beweisen soll, wenn ich es nicht kann, geht gegen den Sinn der Welt. Es gibt Völker, die das längst eingesehen haben, und darum sind sie größer. Besseres Recht, besseres Volk.«
    6

    Herr von Andergast stand auf und ging zum Fenster. Indem er die Zigarette auf dem Sims zerdrückte, überlegte er sein ferneres Verhalten. Er fühlte sich verwirrt und bis zu einem gewissen Grad sogar hilflos. Mit gutgespielter Bekümmertheit sagte er: »So kommen wir nicht weiter. Sie haben sich festgelegt, was natürlich zu erwarten war. Ich beabsichtige nicht, den Herren Pastoren den Rang abzulaufen. Es wäre ein verkehrtes Beginnen, wie die Dinge liegen. Da mein Besuch, wie schon bemerkt, inoffiziell ist, erlaube ich mir auch nicht, Ihre Äußerungen anzuzweifeln. Ich könnte sonst antworten: Eine Fiktion, mit der man sich entschlossen hat zu leben, ist ein Tyrann, der verlernt hat zu sehen und zu hören. Aber lassen wir das. Ich dachte an Verständigung.« Er schwieg einige Sekunden, um den Eindruck seiner Worte zu prüfen, jedoch Maurizius rührte sich nicht und erwiderte nichts. Deshalb fuhr er fort, und seiner Stimme war anzuhören, daß er stark irritiert war: »Bezüglich unserer Rechtshandhabung befinden Sie sich übrigens im Irrtum. Wie die meisten Laien. Daß der Schuldbeweis vom Richter erbracht wird, ist im Gesetz ausdrücklich vorgeschrieben. Jeder gilt so lange für unschuldig, als seine Schuld nicht einwandfrei festgestellt ist. Das ist einer unserer fundamentalen Rechtsgrundsätze, es gibt kein Gericht, das ihn außer acht ließe.«
    Maurizius hob ein wenig den Kopf. Haltung und Miene waren voll stummer Ironie. Er lächelte. Vielleicht über die juristisch gewundene Form der Belehrung mit »bezüglich« und »Handhabung«, vielleicht über den dozierenden Ton, mit dem eine Anstalt in Schutz genommen wurde, die ihr blutloses Scheinleben außer in verstaubten Pandekten nur noch in den Köpfen von Männern führte, die aus Buchstaben Begriffe zusammenleimten, mit denen sie dann eine gespenstische Symbiose eingingen. Er sagte achselzuckend: »Geschrieben steht es. Nicht zu leugnen. Manches steht geschrieben. Wollen Sie aber behaupten, daß es auch geschieht? Wo? wann? von wem? an wem? Hoffentlich glauben Sie nicht, daß ich nur von mir aus, von meinem Schicksal aus schließe. Ich komme da gar nicht in Betracht. Meine Fiktion, na ja. Halten Sie die wirklich für einen Erblindungs- und Ertaubungsprozeß? Es muß ein Trost für Sie sein, sich zu sagen, daß mich die sogenannte Fiktion achtzehneinhalb Jahre verhindert hat, mir darüber klarzuwerden, was rings um mich vorging und vorgeht. In dieser Welt da. In einer solchen Welt.« Er hatte völlig leidenschaftslos gesprochen, eher mit erschöpfter Kälte als heftig, doch hatte er sich erhoben und war einen Schritt vorgetreten. In einer solchen Welt; es klang wie aus dem Erdinnern, aus totaler Finsternis, gleichwohl ohne Anstrengung, weil dem Ruf infolge millionenfacher Wiederholung keine Hoffnung auf Gehörtwerden mehr innewohnte. Während er beide Mittelfinger ineinanderhakte wie Kettenglieder, eine Bewegung, die habituell zu sein schien und aus einsamen Grübeleien stammte, starrten seine kaffeebraunen Augen ununterbrochen auf das Kinn des Herrn von Andergast, nicht höher als auf das Kinn, was Herrn von Andergast außerordentlich unbehaglich war, so ungefähr, als ob ein zu niedriges Maß an ihn angelegt werde. »Wie gesagt, ich sehe ab von meinen persönlichen Umständen«, begann Maurizius wieder. »Für mich selbstverständlich ist mein Schicksal genau so wichtig wie das ganze Sonnensystem, als Erfahrung ist es trotzdem nur vereinzelt. Aber ich habe nicht bloß die eigene Erfahrung gehabt, ich habe tausend gehabt. Von tausend Richtern hab ich gehört, tausend hab ich vor mir gesehn, von Tausenden das Werk betrachten können, und es ist immer ein und derselbe. Von vornherein der Feind. Die Tat nimmt er für

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