Der Fall Maurizius
im eisernen Käfig eingesperrt, hockt in der Halbdunkelheit, rüttelt von Zeit zu Zeit an den Gittern wie ein Gorilla, brüllt von Zeit zu Zeit, klagend wie eine Kuh, die nach dem Kalb schreit, das geschlachtet wird. Streng ruft ihm der Inspektor zu: »Lorschmann, wenn Sie nicht Ruhe geben, laß ich Sie morgen hungern«, worauf ein knarrendes Geräusch aus dem Innern des Eingegitterten kommt, als hätte er eiserne verrostete Eingeweide. Da: Der »Mensch«! total vernichtet, der berühmte »Mensch«, selbst die äußere Form ist nur noch Zerrbild. Herr von Andergast steht an der Zellentür, als sei er selbst gefangen, warum ist ihm dies neu, ein in furchtbarer Weise Niegesehenes? Ist in seinen Augen etwas, was vorher nicht drinnen war, oder ist der Schein der Blendlaterne auf das dämonenhafte Bild gefallen wie unlängst in das Gehirn des Spiegelwesens?
5
Drei Uhr. Herr von Andergast hat im Gasthof in Kressa Mittag gegessen, das heißt, er hat eine Reihe von Speisen bezahlt, zu sich genommen hat er nur zwei Tassen schwarzen Kaffee. Die Zelle des Sträflings 357 wird aufgeschlossen und hinter ihm wieder verriegelt. Ein Mann erhebt sich vom Tisch, mit der gedrillten Raschheit, die das Haus fordert, steht still wartend da. Er ist ungefähr einen halben Kopf kleiner als Herr von Andergast, das graue Sträflingskleid hängt schlotterig um seine dürre Gestalt. Er steht sehr gerade, auch der Kopf ist nicht gebeugt. Die graue Gesichtsfarbe unterscheidet sich kaum vom Grau des Gewands, über einer hohen Stirn liegen schlohweiße, schlichte Haare, ungeschoren. Die Zelle ist fünfeckig, sie enthält die eiserne Bettstelle, den verdeckten Kübel, den Holztisch, den Holzstuhl, den Eisenofen, einen Ständer mit wenigen Büchern. Das Fenster geht auf den Hof, unten bewegen sich fünfzig Sträflinge schweigend im Kreis. Es ist der vorschriftsmäßige »Spaziergang«. Mehr als fünfzig haben im Hof nicht Platz. Es dauert fünf Stunden, bis acht Partien ihren täglichen Spaziergang absolviert haben. Man hört das Schlurren der Füße auf dem Steinpflaster herauf. Es klingt, wie wenn der Wind in schlaffe Segel fährt und sie flattern macht.
»Sie werden sich kaum meiner erinnern«, beginnt Herr von Andergast konventionell das Gespräch. Es scheint ihm nicht um Bindung zu tun, er erweckt nicht einmal den Eindruck, als wolle er eine Stimmung sondieren. Ebenso formelhaft nennt er seinen Namen. Maurizius, der sich bis dahin nicht gerührt, hebt ein wenig das Kinn, als hätte er einen Stoß empfangen. Da er mit dem Rücken zum Fenster steht, kann man den Ausdruck seiner Augen nicht erkennen, sie nehmen sich wie zwei schwarze Kreise in dem langgezogenen Gesicht aus. Herr von Andergast setzt sich auf den Stuhl und erwartet, wie er durch eine Handbewegung andeutet, daß Maurizius ihm gegenüber auf der Bettstelle Platz nehme. Dieser zögert jedoch. Was ihm die Auszeichnung verschaffe, fragt er mit belegter Stimme, der man den seltenen Gebrauch anhört. Herr von Andergast sitzt vorgebeugt, die Hände zwischen den Schenkeln gefaltet. Die veilchenblauen Augen haben ihre strahlende Glut wiedererlangt. Es sei in einem Wort nicht zu sagen. Er wiederholt die zum Sitzen auffordernde Geste, faltet wieder die Hände. Ein Schweigen tritt ein. Sodann bemerkt Herr von Andergast, zu Boden blickend, er wünsche festzustellen, daß sein Besuch keinen amtlichen Charakter trage, sondern durchaus von privaten Erwägungen eingegeben sei. Maurizius läßt sich endlich auf der Bettstelle nieder, vorsichtig, wie um keine Silbe zu verlieren. Jetzt, wo das volle Tageslicht darauf fällt, sieht sein Gesicht geisterhaft aus. Man könnte denken, in den Adern fließt weißes Blut. Die Nase ist eingefallen, der Mund, von außerordentlich gefälliger, ja beinahe anmutiger Schwingung, ist hart verpreßt. Die Augen sind nicht mehr schwarze Kreise, sondern kaffeebraun mit einem milden, beständigen, freudlosen Blick.
Private Erwägungen? Welche könnten das sein? Herr von Andergast wendet dem Nagel seines rechten Mittelfingers eine ausgiebige Betrachtung zu. Dann, mit dem Augenaufschlag biederer Offenheit (entschieden, so gemacht er ist, ein Etzelscher Augenaufschlag), es handle sich um allenfallsige künftige Maßnahmen. Maurizius, schwach interessiert: Maßnahmen welcher Art? – Darüber könne doch schwerlich ein Mißverständnis herrschen. Habe denn Maurizius auf jede Hoffnung verzichtet? – Maurizius hebt langsam die Hand und legt sie auf seinen weißen Scheitel,
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