Der Fall Maurizius
dem fettbeschmierten nackten Leib quer wie ein Balken über der Tiefe und stöhnte vor Qual. Die zwei andern waren nackt in der Winterkälte über die Chaussee gerannt, waren in ein leeres Landhaus eingebrochen, hatten dort Kleider geraubt und waren entkommen. Der Vorsteher, das enge Gitter mit der Hand ausmessend, erklärt, daß es ihm noch heute ein Rätsel sei, wie ein ausgewachsener Mensch sich habe durch die Stäbe pressen können, kaum daß eine Katze mit knapper Not durchzuschlüpfen vermag. Herr von Andergast bemerkt: »Es scheint, der Freiheitsdrang verleiht diesen Menschen übernatürliche Fähigkeiten.« Vorsteher und Inspektor stimmen schweigend zu. Aber Herr von Andergast fühlt die banale Schwächlichkeit seines Ausspruchs, es ist ihm, seit er in diesem Hause weilt, fast krankhaft unzulänglich zumut, er kann sich nicht entsinnen, daß er sich selber je zuvor so zweifelhaft war. Es drückt sich in seiner Blässe aus, in der Unsicherheit seines Schrittes, er geht so schwer, als seien die Knochenkanäle mit Blei gefüllt. Vierzig Betten in einem Raum, sechzig im nächsten, er sieht das plötzlich, Betten übereinander, Betten nebeneinander wie Ehebetten, er sieht es plötzlich, er sagt, auf die Betten deutend, dumpf und unwillig, die Einrichtung sei unhaltbar. Die beiden Aufseher grinsen heimlich, die männlich-ernsten Züge des Inspektors geben erfahrene Sorge zu erkennen, der Vorsteher murmelt: »Ein Infektionsherd von Übeln.« Auch dieses Wort ärgert Herrn von Andergast durch seine Seichtheit, als steige Zorn in ihm empor, rötet sich seine Stirn. Er blickt immer noch über die leeren, getürmten Bettstellen hin, von einer Vision des Grauens getroffen, die das Gefühl quälender Unzulänglichkeit zu einer Ahnung von Schuld hinaufsteigert, er deckt die Hand über die Lider, er will die Betten nicht mehr sehen, unsäglich ekel machen sie ihm den Begriff des Menschen, Schleim, der sich aufbläht in Tücke und Wollust, das Innere der Brust ein abgegrenztes Stück Finsternis mit einem zuckenden Muskel inmitten, den zu einem Behälter von Tugenden zu machen stets das ergebnislose Geschäft von Dichtern und religiösen Schwärmern gewesen ist. Exemplum docet, sagt sich Herr von Andergast, als sie in die Zelle des gefürchteten Hiß treten, die nicht aufgesperrt werden muß, weil sich der Anstaltsgeistliche darin befindet und ein Wärter, jüngerer Mensch mit brutalem, von Rotlauf zerfressenem Gesicht, davor Wache steht. Der Seelsorger begrüßt Herrn von Andergast. Mit seinen wettergebräunten Zügen und der weißen Mähne gleicht er einem norwegischen Fischer. Doch wie bei vielen dieser Männer täuscht auch bei ihm der Anschein priesterlicher Kraft, der ihnen wie ein leuchtender Nimbus um die Stirn schimmert. Die Kraft, die sie einmal beflügelt hat, ist meistens aufgebraucht, sie haben einsehen gelernt, daß sie von dem Berg des Jammers nur Sandkörner abtragen können, daß der Stollen, den sie hineinbauen, sie selber jeden Tag von neuem verschüttet, sie sind müde geworden, sie haben keinen Glauben mehr an die Sendung und funktionieren als Beamte, weil der Staat sie dafür bezahlt. »Ein hoffnungsloser Fall«, raunt er Herrn von Andergast zu, die Schulter gegen den Sträfling bewegend, und über sein Gesicht breitet sich schaler Verdruß aus wie bei einem Menschen, dem man zum hundertstenmal zumutet, er solle einen Baum mit den Wurzeln aus der Erde ziehen. Hiß steht da mit geducktem Oberkörper, der Mund in dem zitronengelben Gesicht ist bösartig verkniffen, die fliehende Stirn ist von kleinen Schweißperlen bedeckt, die Augen, gelb wie die eines Panthers, sind in bodenlosem Haß auf den Pfarrer geheftet, und als ihn der Vorsteher anredet und ihn fragt, ob er mit dem Schreiben begonnen habe, richtet sich der Blick mit demselben Ausdruck bodenlosen Hasses auf den Vorsteher. »Konnte nicht«, knurrt er erbittert, »wie soll einer hier schreiben können, fortwährend brüllt der da drüben in seinem Käfig, da vergeht einem ja der Kopf . . .« Der Haßblick wandert schleichend reihum, in jedes Gesicht, der Rücken duckt sich tiefer, die gefährliche Pantherbestie in dem kaum noch menschenähnlichen Wesen kann jede Sekunde ausbrechen. Herr von Andergast weicht unwillkürlich einen Schritt zurück, stumm verläßt er die Zelle, der Aufseher hat schon die nächste geöffnet, ihr Insasse ist der, der »im Käfig brüllt«. Es ist ein zu einer Disziplinarstrafe verurteilter Gefangener, er ist für drei Tage
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