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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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möglich, daß du da bist, in meiner Gegenwart mit deiner Ungegenwart? Es ist ungefähr so, als säße Attila oder Iwan der Schreckliche vor einem, und die draußen seien ebenso unsterblich wie man selber. Da Herr von Andergast bei seinem auffordernden Schweigen beharrt und sich auf eine Magie verläßt, deren Stärke er aus analogen Fällen kennt (als ob bis jetzt nicht der kleinste Teil seiner Selbstgewißheit erschüttert worden wäre, als ob er ihre heillose Unterhöhltheit nicht spürte), greift Maurizius zum letzten Wort zurück, das in ihm wiederkehrt. »Nein, keiner hatte den Glauben«, spricht er vor sich hin, »es war nur die Anklage nötig, da war ich auch schon schuldig. Ich habe viele Freunde gehabt, damals, ich durfte sie Freunde heißen, unter dem Gesichtspunkt meines damaligen Lebens waren es Freunde, aber mit dem Tag, wo ich unter Anklage stand, waren sie weggeblasen. Ich sah mich immer nach ihnen um, ich konnte es nicht fassen, solch ein Abfall . . . Ich hatte doch keinem was Böses angetan, hatte keinen verraten, ich dachte, sie müßten mich kennen, jeder Mensch hat doch sozusagen seinen moralischen Standard, man hatte einander so vieles anvertraut, keine Falte war unverdeckt geblieben, bildete man sich ein, . . . und keiner . . ., keiner, wie wenn man plötzlich unter fremdem Namen aufgetaucht wäre . . ., in einer andern Welt . . .« – »Einen vergessen Sie«, mahnt Herr von Andergast, »ich denke, Ihr Vater hat den Glauben niemals verloren.« Er entschließt sich nicht leicht zu einem Hinweis, der zuviel Familiäres enthält, aber erstens sagt er sich, daß er hier ist, um zu dissimulieren, zweitens beginnt ihn sein Gegenüber zu fesseln, es ist da eine Mischung von Bestimmtheit und Weite, von Kälte und vermutbarer, entschlossen eingedämmter Glut, die ihn aufzumerken zwingt und die mißtrauische Gleichgültigkeit, mit der er gekommen ist, verflüchtigen läßt. Maurizius nickt kaum merklich. »Ja, es ist wahr«, antwortet er, »Vater, ja, der . . . Aber Vater, das zählt nicht. Es ist ein Unterschied zwischen Blutliebe und anderer. Gehört einem ein Mensch, so beweist es der Welt nichts, wenn man zu ihm steht. Eigentum tilgt Schuld. Auch Elli hatte . . .« Er stockt, schüttelt den Kopf. Es war jedenfalls ein wunderliches Auch, wunderliches Beispiel, das er unterdrückte. Herr von Andergast zieht die Zigarettendose aus der Weste, reicht sie Maurizius geöffnet hin, der nimmt mit gieriger Eile, überrascht, eine Zigarette. Herr von Andergast gibt ihm Feuer, zündet sich selbst eine an, eine Weile schauen sie einander wortlos rauchend ins Gesicht. Herr von Andergast überlegt angestrengt. Endlich, als habe er angefangen, Zweifel zu hegen, und hoffe, auf eine Fährte gebracht zu werden, wirft er die Frage hin: »Wenn ich also annehmen soll, daß Sie nicht geschossen haben, wohlgemerkt, ich darf es nicht annehmen, ich suche mich nur in Ihre Auffassung zu versetzen, wer, nach Ihrer Auffassung, könnte sonst geschossen haben?« Um seine Lippen spielt ein freundlich-ermunterndes Lächeln, die Veilchenaugen blicken beinahe gütig. Maurizius starrt ihn an. Seine Brauen heben sich verächtlich, so daß auf der Stirn eine tiefe Kerbe erscheint. Es vergehen ungefähr anderthalb Minuten, während welcher sein Gesicht von einer Finsternis überzogen wird, die etwas von stummer Raserei hat. Ist es die Frage, die tausend- und abertausendmal im gleichen Ton, mit der gleichen Skepsis, mit dem gleichen Richter- und Henkertriumph gestellte Frage, die ihn so verwandelt? Schwerlich. Er hat Geduld gelernt. Er hat die Geduld der Frager kennengelernt. Er ist hart und taub dagegen geworden. Die Frage trifft in ihm nichts mehr, lockt und löst in ihm nichts mehr. Sie niemals, unter keiner Seelen- und Körperqual zu beantworten, nicht mit Blick, noch Hauch, noch Geste, das ist beschlossene Sache seit achtzehn Jahren und sieben Monaten. Da bissen sie auf Granit. Aber es ist nicht das. Es ist der Mann selber. Er begreift auf einmal: da sitzt der Gegner. Fünfundsiebzig Zentimeter von dir entfernt der Verdammer, der Verderber, der übermenschlich Unerbittliche, nicht bloß Repräsentant, von solchen waren viele hier, nein, die Person selber. Fügung und Schicksalsinkarnation. Alles Draußen verdichtet in ein einzelnes Individuum, Welt, Menschheit, Gericht, Urteil, alles Erlittene, alles in diesem Raum Ergrübelte, alle die ewige Gegenwart, alle die schlaflosen Nächte, die Demütigungen, Entbehrungen, Verzweiflungen,

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