Der Fall Maurizius
befreien, doch hütete er sich, sonst eine Bewegung zu machen. »Es wäre eine verkehrte Vorstellung, kleiner Mohl, wenn Sie mich dort als eine Art Jesaias erblicken würden, der den Untergang der Welt mit zornentbrannten Prophezeiungen introduziert. Nicht die Spur. Erstens ist da an Untergang gar nicht zu denken, ein Begriff, den ein paar belletristische Philosophen erfunden haben, um den seelischen Starrkrampf Europas zur Sensation aufzubauschen, zweitens: Das Auge, das sieht, ist ein Regulativ für das Herz, das leidet. Da die meisten Menschen mit Blindheit geschlagen sind, leiden sie desto mehr. Der Sehende wird kalt. Eine grausame Wahrheit, aber wär's keine, wie könnten wir, Sie und ich, jeden Morgen aus dem Bett steigen und wieder das Hemd und die Strümpfe anziehn und wieder die Zeitung lesen und wieder zu Frau Bobike wandeln? Wie wäre das möglich? Und was mich betrifft, ich leide ausschließlich an mir selber. An andern leiden, das ist Schwindel. Leide nur einer genügend an sich, er braucht nicht zu fürchten, daß er versteinert. Wir wissen viel mehr voneinander als . . . wir wissen. Ich hatte ja zu schleppen. Ich hatte was hinter mir. Es ist Ihnen, zum Teil wenigstens, jetzt bekannt. Ich mußte trachten, den Waremme unschädlich zu machen, verstehen Sie, das wurde nach und nach die Kardinalfrage. Abrechnen, abrechnen. Der Jude ist da, um abzurechnen. Dazu hat ihn Gott bestimmt. Warschauer kontra Waremme, verstehen Sie. Das Hüben und Drüben: zwei Parteien. Europa und die Vergangenheit, Amerika und die Zukunft; es wurde immer mehr zum Leitmotiv. Und bilden Sie sich nicht ein, daß ich fernerhin noch eine Silbe über diese verdammte Affäre Maurizius verlieren werde, das ist abgetan, sag ich Ihnen, da will ich keinen Gedanken mehr dran verschwenden, Sie mögen tun, was Sie wollen.« Er verharrte einige Minuten in seltsam drohendem Schweigen; als Etzel still blieb, fuhr er fort: »Das war also die Geschichte mit meinem Freund Joshua. Meiner Meinung nach war er ein Märtyrer. Heutzutage erregen die Märtyrer keine Aufmerksamkeit mehr, es gibt zu viele. Ich mache mir freilich nichts aus den Märtyrern. Sie hemmen, sie halten auf. Man muß das Schicksal gestalten. Unterliegen und sich opfern, das kann jeder Idiot. Das hat der Osten über uns geschickt, den Märtyrerglauben, die Märtyreranbetung. Da liegt zum Beispiel die russische Seele da, bedeckt Millionen Quadratmeilen Erde und feiert Orgien des Martyriums. Übel, lieber Mohl. Es fehlt die kleine Bemühung, ganz einfach, die kleine bescheidene Bemühung, die sich summiert. Ich bin lange unwissend herumgegangen drüben, jahrelang, nicht scharf genug sehend eben, bis mir ein Mann die Augen öffnete. Von diesem Manne sollen Sie jetzt hören, denn er war die Ursache, daß ich dahin kam, wo ich stehe. Er war gewissermaßen das erste Glied einer langen Kette. Er hieß La Due, Hamilton La Due. Ein mäßig begüterter Kaufmann. Vierzig, zweiundvierzig Jahre alt. Im Westen geboren, an der Küste des Pazifik, wo frische, heitere, unbefangene, kindergleiche Männer leben. Seine Bildung war ungefähr auf dem Niveau eines deutschen Rekrutenunteroffiziers, sein persönlicher Zauber etwas, das man in unsern Gegenden nicht findet. Dabei keineswegs schön oder elegant, bewahre, ein dicklicher, kurzhalsiger, plumper, stotternder Geselle, aber Sympathie strömte von ihm aus und Güte und Arglosigkeit wie die Hitze von einem Dampfkessel. Er hatte eine Menge Bekannte in der Stadt, aber was er eigentlich trieb, neben seinem Gewerbe trieb, davon hatte, glaub ich, niemand eine rechte Ahnung. Ich vermute, daß er dabei sich selber entwischte und sich mit einer lustigen Heimlichkeit in das andere stürzte, wie ein Kind in das verbotene Spiel. Ich lernte ihn kennen, als ich mich eines Tages im Jugendkorrektionshaus nach einem Mädchen erkundigte, das schon längere Zeit dort wegen Trunksucht in Verwahrung war. Ich stand unten an der Treppe, da kam das grüne Polizeiauto angefahren, mächtig groß wie ein Möbelwagen, und aus diesem riesigen Vehikel stieg ganz allein ein etwa zwölfjähriges Bürschchen, finster und verbissen, sprang die Treppen empor, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, so recht wie ein Habitué des Ortes, und wollte eben im Tor verschwinden, die Polizisten konnten ihm kaum folgen, als mein La Due herauskam, den Kleinen hurtig beim Schlafittich packte und sich erkundigte, was mit ihm los sei. Na, und was war los? Er hatte in der Schule einen Federhalter und
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