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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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einen Radiergummi gestohlen. Verbrecher. Rückfällig noch dazu. Man denke, Federhalter und Radiergummi. La Due ging gleich mit ihm ins Office und kam dann, den Jungen an der Hand, wieder zurück. Er hatte für ihn gebürgt. Er erzählte es mir lachend. Ich bin noch keinem Menschen begegnet, mit dem man so leicht ins Gespräch kommen konnte. Gehn Sie mal mit mir, schlug er mir vor, ich habe im Distriktsgefängnis zu tun. Den Jungen verfrachtete er in irgendeinem Shop, dann zog er mich in die Maxwell Street. Unterwegs drängte er mir ein Päckchen Schokolade auf, offenbar weil es ihm höchst unangenehm war, wenn er einem, der sich in seiner Gesellschaft befand, nichts schenken konnte. Er hatte beständig die Taschen voll, beständig teilte er aus, Zigaretten, Schachteln mit Feigen, kleine Gedichtbände, eine Stange Siegellack, kleine Papierfächer, was er grad bei sich trug. Dabei lachte er, stotterte, guckte mit seinem Opossumgesicht neugierig herum, rief ›Hallo, Frank‹ über die Straße hinüber oder klopfte im Vorbeigehen einem Henry aufmunternd den Rücken. In der Maxwell Street war ein vor kurzem eingewanderter Kiewer Jude in Haft, er sollte eine Urkundenfälschung begangen haben, beteuerte aber seine Unschuld, La Due hatte einen Advokaten für ihn gewonnen, den sollte er dort treffen. Als wir hinkamen, war er noch nicht da, wir warteten eine Weile im sogenannten Sitzungssaal, einem finstern Gewölbe, wo ein pestilenzialischer Gestank herrschte. La Due trippelte fröhlich singend auf und ab, er sah aus, als habe er Geburtstag. Scheußlicher Lärm bewog uns, ins Erdgeschoß zu steigen, man hatte ein halbes Dutzend Neger und Negerinnen eingeliefert, ich weiß nicht mehr warum, Gestalten aus dem Inferno. Zwei Dirnen waren darunter und ein lepröser Alter, der vor Wut auf einem Bein tanzte, La Due mischte sich in die Unterhandlungen, nach fünf Minuten hatte er die heulende und keifende Bande zur Ruhe gebracht, eine der Megären, die hexenhafteste, dick geschminkt, kropfig, scherzte sogar mit ihm, indem sie mit gräßlicher Koketterie ihr japanisches Schirmchen, das sie immer noch geöffnet über dem Kopf hielt, hin und her schwenkte, es war eine Szene, bei der mich die Gänsehaut überlief, ich trat einen Augenblick auf die Straße, das Gewühl von Menschen, Karren, Autos, der windgewirbelte Kehricht, die düsterroten Ziegelbauten, die schreienden Farben der Plakate, der bleierne Himmel, es war ein Moment, wo man das eigene Dasein nicht mehr kapiert, ich dachte: Du bist vielleicht auf dem Mond, es ist eine Mondstadt, es sind Mondwesen, zwischen Krater- und Lavawüsten spielt sich ein Gespenster- und Lemurenleben ab. Plötzlich stand La Due mit seinem strahlenden Geburtstagsgesicht vor mir, er hatte eine kokosnußgroße, kalifornische Orange entzweigeschnitten und reichte mir die eine Hälfte. Er hatte gleich einen Korb voll gekauft, das verhaftete Negergesindel hatte sich darüber hergemacht, die Beamten ließen es achselzuckend geschehen. Endlich kam der Anwalt, wir wurden zu dem gefangenen Juden geführt, er hockte in einem Käfig, das ganze Gefängnis bestand wie eine Menagerie aus eisernen Käfigen, da hockte er drin; als er uns erblickte, schluchzte er laut auf. La Due setzte sich zu ihm auf die Pritsche, strich ihm zärtlich über den Kopf, forderte ihn auf, zu erzählen, wie alles zugegangen. Der Mensch war wie ausgewechselt, in kaum verständlichem Jargon schilderte er sein Unglück, es schien wirklich, daß er das Opfer einer Perfidie war, jedenfalls wußte ihn La Due über seine Aussichten zu beruhigen. Das Sonderbare war nur, wie er überhaupt von ihm erfahren hatte. Und von den hundert und hundert andern, für die er ununterbrochen auf den Beinen war. Das blieb mir ein Rätsel. Nach und nach wurde mir ja sein Leben ziemlich vertraut, da er deutschen Sprachunterricht bei mir nahm, ich weiß heute noch nicht, ob er mir damit unter die Arme greifen wollte oder ob er wirklich so lernbegierig war. Er hatte keine Helfer. Er ging immer allein auf seine Jagdzüge in die Slums, von niemand beraten oder gewiesen. Es beruhte offenbar auf einer Art Schneeballsystem. Zum Beispiel, nachdem er dem Juden in der Maxwell Street geholfen hatte, wandten sich gleich sechs jüdische Immigranten an ihn. Juden lagen ihm besonders am Herzen, Juden und Neger. Was er vollbrachte, geschah auf eigene Faust, nach eigenem Augenschein, von Person zu Person. Er hatte keine Wohlfahrtsleute um sich, keine hinter sich. Er schwamm nicht

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