Der Fall Maurizius
tüchtigsten Anwalt aus seiner Tasche besoldet. Je genauer ich ihn kennenlernte, je mehr schälte er sich aus der bescheidenen Hülle los. Ich sah einen Menschen, der in all seiner Unscheinbarkeit für ein Ganzes einstand, den Kristall sozusagen, der sich aus dem rohen Material gebildet hatte. Es mochte Ungezählte seinesgleichen geben, und je tiefer ich in die mächtigen Zusammenhänge blickte, je überzeugter war ich, daß er tatsächlich nur einer von Ungezählten war, der eine, den ich zufällig gefunden hatte. Das gerade erschütterte mich in meinem europäischen Hochmut, so wie ein alexandrinischer Grieche vielleicht erschüttert worden wäre, hätte er zufällig einen sanften Nazarener in Gallien getroffen. Doch was, Nazarener . . . bei La Due war keine Botschaft, kein Evangelium, eine einfache kindliche Freundlichkeit, weiter nichts. Keine moralischen Grundsätze, kein Puritanismus, kein ›wer nicht für mich ist, der ist wider mich‹. Er machte sich wahrscheinlich überhaupt keine Gedanken, er nahm alles hin, wie es war, das Furchtbare und das Erfreuliche. Er murrte nie, er schimpfte nie, er zeigte keinen Ärger, er war nie mißgelaunt. Wenn er hundemüde war und es fragte ihn jemand um einen Weg, so ging er womöglich solang mit dem Betreffenden, bis er ihn ans Ziel gebracht hatte, und ergötzte ihn außerdem noch durch sein munteres Geschwätz. Als Ethel Green, der große Filmstar, von einem eifersüchtigen Liebhaber erschossen wurde, konnte er sich nicht fassen vor Kummer, nicht um ein Haar anders als irgendein Warenhausgirl. Ja, er wallfahrtete sogar zu ihrem Sarg, genau wie hunderttausend andere. Er war eben genau wie alle andern und doch in der Masse drin der magische Mensch, magisch wie der Brennpunkt in der Linse. In dem ungeheuern Staat mit seinen ungeheuern Städten, Gebirgen, Strömen und Wüsten, seinem ungeheuern Reichtum, seinem ungeheuern Elend, seinem ungeheuern Betrieb, seinen ungeheuern Verbrechen, seiner ungeheuern Angst vor Anarchie und Revolution, da mittendrin der kleine harmlose La Due . . . wie soll ich sagen . . . als Menschheitsnovum. Erstaunlich. Man konnte nicht aufhören zu staunen. Durch ihn lernte ich verstehen, daß das Ganze noch ein ungegorener Teig ist, oh, wir sind ja so jung, sagte er immer wieder mit seinem naiven Enthusiasmus, wir sind ja so schrecklich, so wunderbar jung. Und das ist es, das ist die Sache. Zeitalter der Vorbereitung. Völkerbackofen. Alles noch in der Mischung und im Werden. Noch nicht erkaltet. Süden und Norden, Osten und Westen zur Mitte drängend. Weiße Welt und schwarze Welt hart gegeneinander, der Neger zum Gläubiger verjährter Schuld geworden, unaufhaltsam zieht er heran, erobert Stadtteile, überschwemmt Provinzen, Asien dahinter als finstere Drohung und dann der eigentliche, schicksalhafte Widersacher, Rußland, zum Weltduell sich anschickend, Rußland auf der andern Seite des Planeten . . . was hatte ich da zu suchen mit der eingebildeten geistigen Mission? Was sollt ich Geistbehafteter da ausrichten? Da war Stoff, Stoff, Stoff, von Geist konnte erst in hundert Jahren die Rede sein. Gegen den glühenden Krater war Europa ein Antiquitätenkabinett. Ich war weit genug nach Westen gegangen, in jedem Sinn, um mit gutem Gewissen umkehren zu können. Ich erlebte, daß es mich ohne äußeres und inneres Zutun in die Ursprünge zurücktrieb. Unabwendbar vollzog sich die Wiedergeburt Georg Warschauers. Ich war mit dem Leben der Millionen jüdischer Einwanderer immer vertrauter geworden, Hamilton La Due war in der Gettowelt seit vielen Jahren zu Hause, er hatte seine besten Freunde namentlich unter den russischen Juden. Das sind herrliche Leute, rief er bei jeder Gelegenheit, wo er sie rühmen konnte, wonderful people, und wußte Geschichten über Geschichten von Stolz, Hingabe und Dankbarkeit zu erzählen. Aber es findet da ein historisch-psychologischer Prozeß statt, eine Verschmelzung von Elementen, die durch ihre Blutverschiedenheit etwas wie eine neue Seelengattung hervorbringen. Ich nahm teil an dem düsteren Leben. Durch europäische Katastrophen zertrümmert, hingeschwemmt, hat es unter einer Hülle von östlicher Schwere ein atemraubendes Tempo. Ich hatte Umgang mit chassidischen Gelehrten, ich vergrub mich in das Studium unserer alten Schriften, ich sah, was ich versäumt hatte. Es war nicht mehr einzuholen. Von einem gewissen Tage ab fühlte ich mich auf einmal alt. Ich hatte nichts in die Scheuer gebracht, der Zeit, die ich
Weitere Kostenlose Bücher